Ludwig Witzani - Die kleine Posaune der Freiheit

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Der Untergang des Kommunismus hat die baltischen Länder und Polen befreit, sie sind aus ihrem totalitären Kälteschlaf erwacht und dabei, eine noch ungewisse Zukunft zu gestalten. Anders verhält es sich noch mit dem Kaliningrad Oblast, mit Sankt Petersburg und Weißrussland, aber auch hier hofften die Menschen endlich Abschied nehmen zu können von den Verwüstungen des 20. Jahrhunderts. Ein anderes Europa nimmt Gestalt an, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Formen, und Ludwig Witzani wollte mit eigenen Augen sehen, wie sich diese Umbrüche vollziehen. Dabei trifft der Autor auf ein Europa, das dabei ist, einen stürmischen Aufbruch zu wagen, und dass doch zugleich noch immer an den Hypotheken einer Vergangenheit trägt, die nicht vergehen will: der Erinnerung an den nationalsozialistischen Massenmord und die Deformationen, die der Kommunismus den osteuropäischen Völkern nach dem Zweiten Weltkrieg zugefügt hat. In der Begegnung mit den historischen Zeugnissen dieser Epochen aber auch mit den Menschen, die ihm auf dieser Reise begegnen, gewinnt der Autor ein neues Bild von der europäischen Peripherie, die keine Peripherie mehr sein will – und eine neues Verständnis seiner deutschen Identität.

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Im Baltikum ist der Bus natürlich das Verkehrsmittel Nummer eins. Er ist billig, effektiv und bei der (noch) geringen Verkehrsdichte relativ schnell. Seine Fahrer stellen das Konzentrat jener Industriearbeiterelite dar, die es entweder noch nicht oder nicht mehr gibt. Wie die Kapitäne der Landstraße steuern die ihr Gefährt durch Tag und Nacht, Regen und Sturm ihren Zielen entgegen. So auch in Tallinn, wo wir auf dem Busbahnhof der Stadt einen ausrangierten deutschen Bus bestiegen, der sicher schon bessere Tage gesehen hatte, seinen Dienst aber noch immer tadellos versah. Ohne dass weiter darüber gesprochen worden wäre, hatte auch Stefan ein Busticket nach Tartu gelöst. Ich musste mich wohl damit abfinden, dass er mich so lange begleiten würde, bis er die passende baltische Frau gefunden hätte.

Die Busreise nach Tartu war ebenso unspektakulär wie die Landschaft. Wir durchfuhren endlos flache Ebenen, Meere von Wiesen, Weizen- und Rapsfeldern, Waldinseln und Weideflächen, überquerten Flüsse und Bäche auf schmalen Brücken, brausten durch weltvergessene Dörfer ohne anzuhalten, erhaschten hier und da den erstaunten Blick eines Kindes, das am Wegesrand mit einem Gummireifen spielte.

Dann war plötzlich Tartu, das alte Dorpat, erreicht, das intellektuelle Zentrum des Landes mit der ältesten Universität Estlands, die ihren Ursprung bis auf das Jahr 1632 zurückführte. Es war eine regelrechte Postkartenstadt, die mit ihrer klassizistischen restaurierten Altstadt und einer durchgrünten Promenade am Ufer der Emajogi Flusses Mitteleuropa entsprungen schien. Wieder versuchte ich die Atmosphäre zu erspüren: War das hier Osteuropa? Ganz bestimmt nicht. In Tartu sah es eher aus wie in Marburg. Studenten lümmelten sich auf den Brückengeländern, die Dozenten lasen Manuskripte in den Cafés, und ein ganzer Papierwald von Plakaten informierte über die Musikszene der Stadt. Für jeden, der sich in Tartu länger aufhalten oder an diesem Ort ein Studiensemester einlegen wollte, hielt die Stadt Galerien, Ausstellungen und Museen bereit, und wer nicht gerade eine Vernissage besuchte oder eine Vorlesung hörte, lag mit einem Buch auf einer der zahlreichen Wiesen im Schatten der Bäume. Auenland am Rande Mordors, ging es mir durch den Kopf, als ich die zahlreichen Skulpturen sah, die die Stadtverwaltung an allen Ecken Tartus positioniert hatte: Meeresjungfrauen, Liebende, die sich als Paare über einem Springbrunnen umarmen, Gelehrte in Denkerpose, Kleinkinder in Erwachsenengröße - es war, als sollte nur eine Busstunde von der russischen Grenze entfernt, eine Idylle beschworen werden, von der jedermann ahnte, wie brüchig sie war.

Denn die idyllischen Außenansichten, die Estland in Tartu und anderswo so ostentativ präsentierte, konnten die Schattenseite des Landes nicht vergessen machen. Und der Schatten, der über Estland lag, hieß Russland. Um dieses Problem in seiner ganzen Bedrohlichkeit zu verstehen, genügte ein einziger Blick auf die demographischen Daten des Landes. Von Narva im Norden bis Petsen im Süden lebten mehrheitlich Russen, eingewandert in den Zeiten der Sowjetunion, die sich nun, nach dem Untergang der UdSSR, plötzlich als ungeliebte Fremde in einem Land außerhalb der eigenen Heimat wiederfanden. Es waren gut 400.000, höchstens eine halbe Million Menschen, ein Klacks, verglichen mit den 115 Millionen Russen im Heimatland, aber in Estland eine massive Minderheit, von der niemand recht wusste, was mit ihr geschehen sollte.

In der Mitte zwischen Narva und Petsen befand sich Kallaste, eine russische Enklave am Peipussee, die wir nach einer kurzen Busfahrt von Tartu aus erreichten. Die Felder waren wilder, die Landschaft hügeliger, und die Zahl der Holzhäuser nahm umso stärker zu, je weiter wir nach Osten fuhren. Vor den kunstvoll geschnitzten Holzfenstern saßen üppige Matkas auf Holzschemeln und schwatzten. Uralte BMW´s und Audis, von denen keiner wissen konnte, wie sie ihren Weg in diesen Teil Europas gefunden hatten, sorgten mit offenen Türen und aufgedrehten Radios für die kostenfreie Beschallung der staubigen Dorfstraße. Wer hier mit einem dieser Autos durch das Dorf fuhr, machte das nicht unter siebzig Sachen, so dass meterlange Staubfahnen noch lange vom Vorüberbrausen eines importierten Westschlittens erzählten. Der Kaffee, den wir im einzigen Café von Kallaste tranken, war dünn, die Milch, die wir dazu orderten, war Westimport und kostete das Doppelte des Getränks.

Nur wenige Schritte abseits der Dorfstraße war der Peipussee erreicht. Wie eine Kostprobe dafür, wie riesenhaft das Land war, das jenseits des Sees begann, erstreckte sich Wasser vor uns, soweit das Auge reichte. An einem kleinen Strand tummelten sich vorwiegend Frauen - elfenhafte und pummelige, junge und alte, schlanke und dicke Russinnen verdösten den Nachmittag, während ihre Männer die Motoren ihrer Fahrzeuge frisierten. Eine Bande kreischender Knaben rannte vorüber, nackt und verschmutzt bewarfen sie sich jauchzend mit Schlamm und pinkelten im hohen Bogen in den See.

Es war warm an diesem Tag, und ein flimmernder Dunst lag über dem großen Grenzsee, mit dem die Russen einen der größten Tage ihrer frühen Geschichte verbinden: den Sieg der Russen unter der Führung Alexander Newskis im Jahre 1242 über eine Armee des Deutschen Ritterordens auf dem Eis des Peipussees, eine wahrscheinlich noch nicht einmal sonderlich bedeutsame historische Episode, die erst durch die Eisensteins Verfilmung zum ersten großen Abwehrkampf Russlands gegen den imperialistischen Westen hochstilisiert worden war.

Daran, dass dieser See jemals zufrieren könnte, war an diesem Tag nicht zu denken. Es wurde immer wärmer, und ein heißer Wind wehte von Osten heran. Den Wiesen entströmte ein erdiger, dumpfer Geruch nach nasser, warmer Fäulnis, als sich Stefan neben mich setzte und darüber philosophierte, was die Frauen im Kern ihres Wesens bewegte. Seine bisherigen Misserfolge bei der Partnersuche hatten in ihm offenbar das Bedürfnis nach vertiefter Analyse geweckt. Seiner Ansicht drehte sich alles um die "Erbse" zwischen den Beinen einer Frau, die es zuallererst zu finden und zu bearbeiten gelte. Wer die "Erbse" nicht finde, gerate bei den Frauen ganz einfach auf die Abschussliste, sinnierte Stefan, während ein warmer Wind weiter durch die Blätter rauschte. „Was hältst du von dieser Theorie?“

„Erinnert mich ein wenig an die Prinzessin auf der Erbse“, antwortete ich.

„Stimmt“, sagte Stefan. „Komm, lass uns abhauen aus dieser Gegend. Hier gibt es nur hässliche Weiber.“

*

Es gibt Länder, in denen kann man in zwei bis drei Stunden von Osten nach Westen reisen, ohne dass man an der Landschaft merken würde, dass man vorangekommen ist. Im Falle Estlands ist dies nur teilweise richtig, weil wir nach den drei Stunden Busfahrt, die uns von Tartu und Kallaste nach Pärnu an die Ostsee führten, immerhin das Meer erblickten. Allerdings war das Wetter umgeschlagen, und hinter nassen Regenschleiern und tief hängenden Wolken verschwand der Horizont der Ostsee in einem konturlosen Grau.

So war auch von Pärnu, dem hochgelobten ersten Seebad des Landes, im Regendunst nur wenig zu erkennen. Überall nur Pfützen, mit Zellophanplanen überzogene Kaffeehausstühle und dunkler, matschiger Sand an den Stränden. Kaum jemand war auf den Straßen zu sehen, dafür war aber auch weit und breit kein Zimmer frei. Schließlich fanden wir eine kleine Datscha im Garten eines Privathauses, von dem ich noch nicht wusste, dass seine Toilette im Garten nur mit Sägespänen funktionierte und dass uns der Dackel des Hauses Tag und Nacht heulend belagern würde, um mit uns zu spielen. Im Innern der Datscha waren die Wände mit Fischernetzen, einem Elchgeweih, Matrosenbildern, Urkunden in kyrillischer Schrift und diversen Skulpturen behangen. Eine Ronald-Reagan-Maske aus Gummi hing an einem Haken gleich neben einer Marienstatue, und der Teppich sah so aus, als beinhaltete er noch immer sämtliche Sekrete, die seit der Zarenzeit in diesem Raum verspritzt worden waren. Doch der Regen klatschte immer drängender gegen die dunklen Scheiben der Datscha, und so nahmen wir das Zimmer, brachten den Wasserkocher in Schwung und tranken unseren ersten Kaffee in Pärnu.

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