Eins-Eins-Null - Polizeinotruf.
Sachlich und völlig unaufgeregt setzte Jens die Stimme am Notruf über die Erlebnisse der letzten Viertelstunde in Kenntnis und bekam den Bescheid, dass ein Funkwagen unterwegs sei. Jens schlug als Treffpunkt den Parkeingang Innsbrucker Straße / Carl-Zuckmayer-Brücke vor.
Es dauerte nach dem Telefonat knapp fünf Minuten, Jens Mander hatte gerade den Treffpunkt erreicht, als ein Auto mit quietschenden Reifen aus der Martin-Luther-Straße kommend in die Fritz-Elsas-Straße einbog und sich seinem Standort näherte. Mit einer Vollbremsung, die nochmals einen Millimeter Gummi vom Reifen rubbelte, kam vor Jens ein VW-Passat zum Stehen.
Nun hat man ja von zivilen Polizisten so seine Vorstellung: salopp gekleidet, lässiges Auftreten. Aber die zwei aus dem Passat waren entweder keine Polizisten, die schlimmsten Penner Berlins oder hatten sich gerade aus einem Kleidersammel-Container bedient.
Der Beifahrer, der als erster bei Jens war, stellte sich als Kriminalkommissar Mäurer und mit dem Daumen über seinen Rücken zeigend den Fahrer als Kriminalobermeister Reuter vom Kriminaldauerdienst vor.
Ohne auch nur eine Sekunde Zeit zu verlieren, ließ er gleich einen Stapel Fragen ab: „Wie heißen Sie?, Wo wohnen Sie?, Kann ich Ihren Personalausweis sehen?“ und „Was machen Sie um die Zeit im Park?“
Nun hatte Jens nicht ausgeschlafen, er hatte Kopfschmerzen und das ausgeschüttete Adrenalin war auch noch nicht ganz verbraucht. Mit anderen Worten, der Bürger Jens Mander war auf Krawall gebürstet.
„Kümmern Sie sich nicht um mich, kümmern Sie sich lieber um den, den ich gefunden habe“, blaffte er Mäurer an. „Zirka hundert Meter von hier, im Park an einem Baum, männlich, bewusstlos oder tot und mir geht‘s gut.“
„Na, jetzt mal cool down“, mischte sich der Fahrer des Passat ein. „Wir begleiten Sie jetzt zum Fundort und dann schaung mer mal, dann wiss‘mer mehr.“ Das »schaung mer mal« klang aus dem Mund des Fußballkaisers Franz Beckenbauer ganz witzig, aber aus dem Mund eines berlinernden Polizisten war es einfach lächerlich. Und so lachte Jens auch ganz laut. Auch der Herr Kommissar konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Die beiden holten ihre MAG-LITE-Taschenlampen aus dem Passat und dann machten sich die drei auf den Weg.
Es war keine zwanzig Minuten her, seit Jens die Entdeckung gemacht hatte, aber zwischenzeitlich hatte sich was geändert: der Mann war weg. Einfach verschwunden. Zwar lag die Sporttasche noch auf dem Weg, aber der Mann, der war weg.
Jens leuchtete mit seiner Taschenlampe auf die Stelle, an der vor knapp zwanzig Minuten der Mann lag.
„Da lag er“, sagte Jens und blieb stehen, während die beiden Polizisten weiter gingen. Die beiden umrundeten den Baum, leuchteten mit ihren Lampen in und unter die angrenzenden Büsche und immer wieder auf den Boden.
Nach einigen Minuten des erfolglosen Suchens kamen sie wieder zurück und Mäurer leuchtete den Baum an.
„Hatten Sie was angefasst?“, fragte er und ging zu der Tasche.
„Nein“, sagte Jens. „Nein, ich habe mich nur auf den Mann konzentriert.“
Bevor Mäurer die Tasche untersuchte, streifte er sich Latexhandschuhe über. Vorsichtig betastete er die Tasche von außen ab. „Klamotten“, murmelte er. „Mal gucken was wirklich drin ist.“
Vorsichtig zog er am Reißverschluss, erst ganz behutsam und dann immer forscher.
„Klamotten“, sagte er jetzt laut, als die Tasche offen vor ihm lag und es klang, als wäre ihm ein Stein vom Herzen gefallen. „Eine Reisetasche mit Klamotten“, wiederholte er.
Mäurer nahm sein Funkgerät aus der Jackentasche und begann eine Meldung an die Zentrale abzusetzen. „Geh mit dem Herrn schon mal zum Wagen und nimm seine Aussage auf. Ich warte hier auf die Kollegen von der Spurensicherung.“
Jens hatte den Eindruck, als solle er nicht hören, was da gesprochen wurde und so war Jens schon gut fünfzig Meter weg, als Mäurer mit gedämpfter Stimme das Gespräch wieder aufnahm.
Inzwischen war es schon fast sieben Uhr, aber es war immer noch dunkel. Reuter holte ein Klemmbrett mit Formularen aus dem Auto und setzte sich auf die Motorhaube des PKW.
„Nix für ungurd“, versuchte er wieder den Bayerischen Dialekt zu imitieren. „Wir sind heute schon das dritte Mal in der Gegend. Immer mit dem gleichen Notruf, dass ein Mann im Park liegt und immer mit dem Ergebnis, dass er weg ist, wenn wir erscheinen - die Tasche ist bisher das einzige, was wir haben.“
Inzwischen hatte er aus dem Formularstapel auf dem Klemmbrett das richtige Formblatt rausgezogen und an oberster Stelle neu eingeklemmt.
„Name und Anschrift“, begann Kriminalobermeister Reuter die Befragung des Jens Mander, ohne den Blick von seinem Formular zu nehmen.
„Jens Mander, Freiherr-vom-Stein-Straße, Berlin.“
„Nun erzählen Sie mal.“
Jens legte mit seinem Bericht los - mit Uhrzeit und ziemlich ausführlich und Reuter machte sich dabei Notizen, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
„Steno?“, unterbrach Jens seinen Bericht.
Kriminalobermeister Reuter nickte und Jens berichtete weiter.
Während der Vernehmung war ein weiteres ziviles Polizeifahrzeug aus der Freiherr-vom-Stein-Straße kommend auf die Carl-Zuckmeyer-Brücke gefahren. Die gesamte Zeit, in der Jens seinen Bericht zu Protokoll gab, stand er mit dem Rücken zur Carl-Zuckmeyer-Brücke und so bemerkte er nicht, dass Kriminalkommissar Mäurer seinem Kollegen offensichtlich ein Zeichen gegeben hatte, die Vernehmung zu beenden.
Mit den Worten „Ich schreibe Ihnen die Wachbuchnummer auf, kommen Sie bitte in den nächsten Tagen aufs Revier und unterschreiben das Protokoll“, beendete Reuter ziemlich abrupt die Befragung.
„Und bringen Sie Ihren Personalausweis mit“, waren die letzten Worte, bevor er zu seinem Kollegen ins Auto stieg und mit quietschenden Reifen abfuhr.
Jens Mander ging nochmals auf die Brücke, von wo aus man den Fundort der Tasche und der verschwundenen Leiche einsehen konnte. Der Raum um die Tasche und den Baumstamm war zwischenzeitlich mit einem rot-weißen Band abgesperrt worden. Zwei Gestalten in weißen Schutzanzügen waren dabei Fotos anzufertigen und einige Zuschauer waren auch schon da und hatten kleine Grüppchen gebildet.
In den letzten beiden Tagen hatte Jens Mander jede Menge beruflichen und privaten Stress zu bewältigen. Ein Kollege machte mit einem Sack voll Problemen Telefonterror; sein Hund hatte „Dünnpfiff“ und musste ständig „Gassi gehen“; zwei Telefoninterviews mit potentiellen Auftraggebern, auf die er sich vorbereiten musste.
Jens hatte keine Zeit für andere Sachen und so hätte er sein Erlebnis vom vergangenen Montag verdrängt.
Kurz vor zwölf rief sein Sohn Rahul an.
Jens und seine Frau hatten Rahul einige Jahre zuvor in einem indischen Restaurant kennengelernt. Irgendwann hatten sie dann festgestellt, dass sie mehr eine Vater-Sohn-Beziehung als eine Freundschaft pflegten. Jens hatte keine leiblichen Kinder, mit den angeheirateten gab es häufig Stress und so hatte er Rahul kurzerhand emotional adoptiert.
Telefonate mit Rahul liefen immer nach dem gleichen Muster ab.
Phase eins: man befragte sich gegenseitig nach dem Befinden.
Phase zwei: die Befragung über den jeweiligen Partner.
Die Phasen eins und zwei nahmen manches Mal die meiste Zeit des Telefonats in Anspruch.
Doch diesmal war es anders, Rahul kam ganz schnell zur Sache. In dem für ihn typischen Deutsch-Hindi Dialekt fragte er Jens, ob der ihm einen Gefallen tun könnte.
Bei Jens schrillten die Alarmglocken: Wenn Rahul so schnell zur Sache kam, war es meist was Wichtiges im Busch. Also fragte Jens, womit er ihm helfen könne.
Rahul erklärte ihm, dass seit Tagen einer der Köche des Restaurant spurlos verschwunden sei; er sei einfach nicht zur Arbeit erschienen und seit Montag wären auch seine persönlichen Sachen und Kleidung weg. Zur Polizei wolle man nicht, da es vielleicht Probleme mit der Ausländerbehörde geben könnte. Auch in der indischen Gemeinde war er auch nicht mehr gesehen worden.
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