Zoe Katharina
Zoe heißt Leben
Ich riskierte 20 Jahre Haft, weil ich Hunderte von Menschen in Seenot rettete. Und ich würde es wieder tun.
Zusammenarbeit mit Elena Pirin
Patmos Verlag
Der Anruf Der Anruf Es gibt nichts Friedlicheres als die Stille an einem schwedischen See im Juli. Sogar die Mücken werden träge, und auch Ylvy, meine muntere vierbeinige Reisebegleiterin, verkriecht sich vor der Sonne ins Businnere. Ein leichter Wind bewegt die geblümten Gardinen und ich spüre, wie mir mein Buch aus den Händen gleitet. Erst seit einer Woche bin ich hier im Norden unterwegs und habe mich schon an diese verschlafenen Nachmittage gewöhnt. Endlich Ruhe und Zeit, die Anspannung der vergangenen zwei Jahre abzuschütteln. Umso lauter das Klingeln meines Handys. Anruf aus Deutschland, es ist meine Mutter, normalerweise ruft sie nie von der Arbeit aus an. Ihre Stimme ist aufgewühlt. Nein, keine schlimmen Nachrichten vom italienischen Anwalt, auch zu Hause alles gesund. Ein Verlag hat angerufen, wegen der Iuventa. Sie wollen meine Geschichte veröffentlichen. Meine Geschichte? Sofort bin ich hellwach. Auch Ylvy spürt, dass etwas los ist. Sie springt aus ihrem Körbchen und hebt ihre zierliche Schnauze fragend zu mir. Es hilft nichts, vorbei ist der Mittagsschlaf. »Komm, Ylvy, lass uns eine Runde drehen«, sage ich zu meiner kleinen, grauweiß gescheckten Hündin, die mich mit ihren großen, kastanienbraunen Augen beobachtet. Wie froh bin ich, dass ich einen Grund habe, mit Ylvy jetzt um den See laufen zu können. Denn es tut gut, sich die Beine zu vertreten, wenn man Entscheidungen treffen muss. Ist es richtig, meine Erlebnisse und Erinnerungen an meine Zeit auf dem Seenotrettungsschiff wieder hervorzuholen? Alles auszubreiten? Und dann die oft gehässigen und ekelhaften Kommentare auf Facebook und Co! Will ich mir das antun? Und wie viel haben wir, die Seenotretterinnen1, im Vergleich mit den geflüchteten Menschen zu erzählen? Und nun soll ich mich ins Licht der Öffentlichkeit stellen … Habe ich überhaupt etwas zu sagen? »Na, Ylvy, was soll ich tun?« Ylvy weiß, was zu tun ist. Sie hechelt mich lächelnd an, wedelt mit dem Schwanz und stürzt sich auf das Stöckchen, das ich ihr ins Gras werfe. Als ich zwei Jahre zuvor den Anruf erhielt, dass in einer Woche mein erster Einsatz losgeht, gab es Ylvy noch nicht. Ob es an jenem Tag sonnig war, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, dass ich abends in den Himmel über dem Bodensee starrte und mich fragte, wie hell wohl die Sterne über dem libyschen Küstengewässer leuchten werden. Letztendlich ist man mit sich und seinem Gewissen allein, wenn man Entscheidungen trifft.
Sonnenaufgang auf der Iuventa
Papas Boot
Ein Tag wie jeder andere
Einsatz für Lilly
Couscous und Gummibärchen
Der Duft von heißem Kakao
Die Türme von Tripolis
Salz und Benzin
Die See macht frei, die See macht krank
Im Auge des Sturms
Das schwimmende Schaf
Das Floß der Trauer
Die Stimmen Afrikas
Bullerbü im Breisgau
Überall nur Boote
Lilly, zurück zur Iuventa!
Wir Träumer von der Iuventa
Mali auf Malta
Die Zöpfe meiner Oma
Anruf aus Bella Italia
Selbst ist die Frau
Nachts am Nordkap
Kennst du die Iuventa?
Über die Autorin
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Für alle, die mit Hoffnung auf ein Leben in
Würde und Sicherheit auf dem Weg sind.
Und für alle, die nicht wegschauen, sondern handeln.
Es gibt nichts Friedlicheres als die Stille an einem schwedischen See im Juli. Sogar die Mücken werden träge, und auch Ylvy, meine muntere vierbeinige Reisebegleiterin, verkriecht sich vor der Sonne ins Businnere. Ein leichter Wind bewegt die geblümten Gardinen und ich spüre, wie mir mein Buch aus den Händen gleitet. Erst seit einer Woche bin ich hier im Norden unterwegs und habe mich schon an diese verschlafenen Nachmittage gewöhnt. Endlich Ruhe und Zeit, die Anspannung der vergangenen zwei Jahre abzuschütteln.
Umso lauter das Klingeln meines Handys. Anruf aus Deutschland, es ist meine Mutter, normalerweise ruft sie nie von der Arbeit aus an. Ihre Stimme ist aufgewühlt. Nein, keine schlimmen Nachrichten vom italienischen Anwalt, auch zu Hause alles gesund. Ein Verlag hat angerufen, wegen der Iuventa. Sie wollen meine Geschichte veröffentlichen.
Meine Geschichte? Sofort bin ich hellwach. Auch Ylvy spürt, dass etwas los ist. Sie springt aus ihrem Körbchen und hebt ihre zierliche Schnauze fragend zu mir. Es hilft nichts, vorbei ist der Mittagsschlaf.
»Komm, Ylvy, lass uns eine Runde drehen«, sage ich zu meiner kleinen, grauweiß gescheckten Hündin, die mich mit ihren großen, kastanienbraunen Augen beobachtet.
Wie froh bin ich, dass ich einen Grund habe, mit Ylvy jetzt um den See laufen zu können. Denn es tut gut, sich die Beine zu vertreten, wenn man Entscheidungen treffen muss.
Ist es richtig, meine Erlebnisse und Erinnerungen an meine Zeit auf dem Seenotrettungsschiff wieder hervorzuholen? Alles auszubreiten? Und dann die oft gehässigen und ekelhaften Kommentare auf Facebook und Co! Will ich mir das antun? Und wie viel haben wir, die Seenotretterinnen1, im Vergleich mit den geflüchteten Menschen zu erzählen? Und nun soll ich mich ins Licht der Öffentlichkeit stellen … Habe ich überhaupt etwas zu sagen?
»Na, Ylvy, was soll ich tun?«
Ylvy weiß, was zu tun ist. Sie hechelt mich lächelnd an, wedelt mit dem Schwanz und stürzt sich auf das Stöckchen, das ich ihr ins Gras werfe.
Als ich zwei Jahre zuvor den Anruf erhielt, dass in einer Woche mein erster Einsatz losgeht, gab es Ylvy noch nicht. Ob es an jenem Tag sonnig war, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, dass ich abends in den Himmel über dem Bodensee starrte und mich fragte, wie hell wohl die Sterne über dem libyschen Küstengewässer leuchten werden.
Letztendlich ist man mit sich und seinem Gewissen allein, wenn man Entscheidungen trifft.
Sonnenaufgang auf der Iuventa
Bis heute schrecke ich manchmal im Schlaf auf, wenn irgendwo in der Nähe ein Motor aufheult. Das erinnert mich an meine erste Nacht auf der Iuventa: Das laute Dröhnen der Schiffsmotoren ließ mich lange nicht einschlafen. Nach Mitternacht wurde das Geräusch leiser, wir fuhren langsamer. Unsere Überfahrt von Malta näherte sich also allmählich dem Ziel: der Such- und Rettungszone vor Libyen. Dabei schossen mir ein paar Worte durch den Kopf, die ich bei der Schiffsübergabe aufgeschnappt hatte. »Man weiß nie, wer nachts vor der libyschen Küste unterwegs ist.« Mir war theoretisch klar, dass Libyen ein Bürgerkriegsland ist, in dem alles möglich ist. Aber was genau passieren könnte, versuchte ich aus meinem Kopf auszublenden. Bei der Einweisung durch die vorherige Crew gab es keine Zeit für ausführliche Erklärungen über die Verhältnisse im zentralen Mittelmeer – nur, dass die Milizen skrupellos seien. Falls sie die Iuventa entern würden, sollte sich die Crew im Maschinenraum verschanzen, haben wir gleich zu Beginn der Einweisung erklärt bekommen.
Irgendwann wurden die Motoren lauter und ich dachte im Halbschlaf: »Jetzt dringen wir in die Such- und Rettungszone vor. Bald ist es so weit.« Und tatsächlich: Gegen 4 Uhr ging der Alarm los – ich war sofort hellwach. Lena, die direkt in der Koje neben mir schlief, ebenfalls. Ich machte das Licht an, wir wechselten einen kurzen Blick und kletterten, ohne etwas zu sagen, aus den schmalen Betten. Schweigend zogen wir uns an, denn wir wussten beide, was dieses Geheul hieß: Da draußen, mitten auf dem Meer, irgendwo in unserer Nähe, trieb ein Boot, voll mit Menschen, die vielleicht genau in diesem Moment vom Bootsrand rutschten und ertranken oder von der Masse der anderen Bootsinsassen zu Boden gedrückt wurden. Menschen, die gerade vielleicht ihren letzten Atemzug taten. Menschen, deren einzige Hoffnung auf Rettung wir, die Crew der Iuventa, waren.
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