Der Film ist noch nicht zu Ende, gerade heben Forscher ein riesiges Ameisennest aus, als die Schulglocke, deren verstimmtem Gong stets ein knarrendes Geräusch vorauseilt, alle Dämme brechen lässt. Eigentlich müsste ich jetzt einschreiten, zur Ruhe bitten und ein paar abschließende Floskeln an die Klasse richten, aber ich bin erschöpft und lasse sie aus Eigennutz gewähren. Die Meute stürzt sich kreischend und hüpfend durch den Türrahmen. Einige rudern beim Herauslaufen sogar wild mit den Armen. Nur Erika bleibt mal wieder zurück. Sie trudelt in aller Seelenruhe mit prüfendem Blick im Raum umher und schließt verantwortungsbewusst die noch offen stehenden Fenster, während sie beiläufig Papiermüll vom Boden aufsammelt. Als ich mit dem Schlüssel im Schloss an der Tür stehe und sie endlich über die Schwelle tritt, nehme ich meinen Mut zusammen.
»Erika, kommst du noch bitte kurz mit mir, bevor du dich auf den Weg machst?«
Klar, dass Erika kurz nickt und nicht fragt, warum. Sie hat eine ungefähre Vorstellung von ihrem Platz innerhalb der Nahrungskette und würde meine Autorität nie infrage stellen. Diktatoren rund um den Globus lecken sich die Finger nach derart willenlosen Untertanen vom Typus Erika. In peinlicher Stille überqueren wir den bereits verwaisten Schulhof in Richtung Parkplatz. Als ich den Kofferraum öffne und eine große Plastiktüte aus dem Kofferraum fische, schaut sie mich nichtssagend an.
»Na schau schon rein, Erika. Ist für dich.«
Warum nimmt sie die verdammte Tüte nicht endlich entgegen? Wie lange soll ich sie ihr denn noch vor die Brust halten? Vielleicht sollte ich etwas mit dem Beutel rascheln, um sie anzulocken.
»Für mich?«
Da ist er wieder, der unverwechselbar hohle Blick der Erika Kroll.
»Na guck schon rein, Erika«, ermutige ich sie mit hastigem Blick auf meine Armbanduhr. Endlich reagiert sie und nimmt mir die Tüte aus der Hand.
»Was? Wirklich? Danke, Herr Tannenberger! Vielen Dank! Laufklamotten und nagelneue Laufschuhe?! Woher kennen Sie denn meine Größe?«
»Beim Jogginganzug habe ich grob geschätzt und wegen der Schuhe habe ich Herrn Rausch angerufen. Der hat dann unauffällig nachgeschaut, als du nicht auf deinem Zimmer warst. Wenn was nicht passen sollte oder es dir nicht gefällt, kannst du es einfach umtauschen. Die Quittung liegt im Schuhkarton.«
»Nein, Herr Tannenberger! Das passt bestimmt«, quietscht sie vergnügt.
»Na, umso besser. Dann, schöne Ferien und viel Spaß beim Sport! Bis in zwei Wochen.«
»Herr Tannenberger?«
»Ja, Erika?«
»Mir hat noch nie jemand etwas Neues geschenkt. Alles, was ich habe, ist irgendwie gebraucht.«
»Irgendwann ist immer das erste Mal, Erika«, belehre ich sie in bester Lehrermanier. Ich hoffe inständig, dass das Thema damit beendet ist. Doch gerade, als ich in mein Auto steigen möchte, stellt sie sich mir in den Weg. Verdammt! Was soll ich jetzt nur tun? Ich bin aufgeschmissen wie ein Käfer, der hilflos auf dem Rücken liegt und es aus eigener Kraft nicht schafft, seinen Körper zu wenden.
»Darf ich Sie umarmen?«
Was?! Was fragt sie da?!
»Nein, lieber nicht! Ich habe es leider etwas eilig.«
Mit tomatenrotem Kopf versuche ich betont gelassen ins Auto zu steigen, aber das hektische Knallen der Tür macht meine vorgetäuschte Lässigkeit völlig zunichte. Schnell den verdammten Schlüssel drehen und Abfahrt. Gott sei Dank! Er springt beim ersten Versuch an. Gut, dass ich heute Morgen rückwärts eingeparkt habe, das bringt wertvolle Sekunden. Ausnahmsweise schaue ich jetzt nicht in den Rückspiegel, um mich zu vergewissern, dass die Schule und vor allen Dingen Erika verschwindet. Heute muss ich einfach blind darauf vertrauen, dass es stimmt. Geliebter Innenraum, auf dich ist Verlass. Gut, dass es dich gibt.
Im Gegensatz zu Schultagen rauschen die Ferientage sturzbachartig an mir vorbei, und wenn ich einmal von Essen, Trinken und Schlafen absehe, bin ich bisher nicht auch nur einer sinnvollen Tätigkeit nachgegangen. Der große Stapel Klassenarbeiten liegt nach wie vor unkorrigiert auf dem Tisch und ragt wie ein Denkmal zu Ehren meiner unverschämten Trägheit mahnend in die Höhe. In halbwegs klaren Momenten war ich zumindest immer wieder mal im Wald spazieren. Es ist fast zur Gewohnheit geworden, die schäbige Bank am Waldrand aufzusuchen. Ich bin mir nicht schlüssig, warum ich das trotz der Gefahr, Erika zu begegnen, tue. Vielleicht ist es ein Zeichen, dass ich alt werde. Die meisten Menschen entwickeln seltsame Routinen, wenn sie in ein gewisses Alter kommen, und gewohnte Abläufe werden zunehmend wichtiger. Neue Optionen, die in jungen Jahren nahezu bedingungslos offenstanden, werden immer häufiger infrage gestellt, fein säuberlich filetiert und anhand bereits durchlebter Situationen bewertet. Der wachsende Erfahrungsschatz bringt keineswegs nur Vorteile mit sich. Eines Tages überschreitet er die kritische Masse und verdrängt dabei jegliche Spontaneität, die ausnahmslos durch strategische Planung ersetzt wird. Neugier und Angst werden sorgfältig gegeneinander aufgewogen und jedem Vorhaben, dem keine bereits durchlebte Mustersituation zugeordnet werden kann, wird zugunsten der Risikominimierung der Garaus gemacht. Irgendwann übernimmt die Routine schließlich vollständig die Kontrolle über das bescheidene Kontingent an Restlebenszeit, und ohne geordneten, sich ständig wiederholenden Lebensablauf, scheint ein Fortleben nicht mehr denkbar. Alles Neue wird als potenziell gefährlich deklariert. Im schlimmsten Fall besteht der Alltag schließlich nur noch aus originalgetreuen Kopien. Mein Großvater ist der beste Beweis dafür. Zum Ende seiner Tage war er bloß noch ein Gefangener weit zurückliegender Erinnerungen und Routinen. Irgendwann hat er damit angefangen, mich skeptisch zu mustern, wenn ich zu Besuch kam. Wer ich denn sei und was ich ihm verkaufen wolle, fragte er skeptisch, bevor Großmutter ihn mit einer Engelsgeduld davon überzeugen konnte, dass ich kein aufdringlicher Verkäufer, sondern sein Enkelkind sei.
»Ach! Der Nico! Hab ich’s doch gleich gewusst.«
»Ja, klar, Opa. Ich wollte doch nur mal schauen, ob es dir und Oma auch gut geht.«
»Hmmmm.«
»Und, Opa, geht’s denn gut?«
»Was?«
»Ob es dir guuut geht, Opa?!«
»Ach Nico, weißt du, Junge, alles wäre gut, wenn doch nur der verdammte Krieg endlich zu Ende wäre. Ich glaube, der Führer hat sich da in etwas verrannt. Was ist eigentlich mit Vater, wann kommt der endlich heim? In der letzten Zeit wollen einfach keine Briefe von der Front mehr kommen. Mutter ist schon ganz krank vor Sorge. Hast du vielleicht irgendetwas gehört?«
»Aber Opa, der Krieg ist doch schon lange vorbei!«
»Vorbei?!«
»Jaaa, Opa, vorbei!«
»Und?«
»Und was?«
»Haben wir denn gewonnen?«
Seine Gegenwart bestand in erster Linie aus von Angst und Ungewissheit geprägten Kindheits- oder bestenfalls Jugenderinnerungen, die sich dann und wann mit bescheidenen Fragmenten der Gegenwart vermischten. Ich frage mich, welche Endlosschleife die Zukunft wohl für mich bereithält? Vielleicht bin ich dazu verdammt, eine nicht enden wollende Unterrichtsstunde zu durchleben. Oder vielleicht korrigiere ich einen niemals kleiner werdenden Stapel Klassenarbeiten und rege mich schrecklich über die immer selben dämlichen Fehler auf, bis ich an einem Herzinfarkt zugrunde gehe. Apropos Klassenarbeiten. Ich sollte endlich dazu übergehen, diese monotone und mit Frust verbundene Arbeit in Angriff zu nehmen. Gut, los geht’s, Nico! Obwohl … Wo ist mein Rotstift? Wenn ich den nicht parat habe, brauche ich erst gar nicht anzufangen. Ich denke, ein Schluck Rum wird mir helfen, die Suche gelassener zu gestalten. Na, wer sagtʼs denn, er hat sich unter dem unsortierten Papierhaufen auf dem Schreibtisch versteckt. Gleich kann es losgehen. Ich nehme nur noch schnell ein Bad und eine halbe Valium, um mich in eine angemessene Korrekturstimmung zu versetzen.
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