»Guten Morgen, Nico! Bist wohl auch spät dran? Bist du gleich fertig am Kopierer? Ich muss noch schnell das Arbeitsblatt für die 6c kopieren.«
Fuck! Ausgerechnet Dorothea. Schon beim Hören ihrer Fistelstimme laufen mir kalte Schauer über den Rücken. Und dieses dumme Lächeln, das sie in jeder erdenklichen Lebenslage zu begleiten scheint. Mein Gott, jetzt wäre mir sogar eine gepflegte Abreibung vom Alten lieber, als mir von dieser faltenschlagenden Schabracke am frühen Morgen den letzten Nerv rauben zu lassen. Absolut rätselhaft, wie so ein selten dämliches Gesicht wie das von Dorothea entstehen kann. Als hätte sich ein Monchichi mit einem mongoloiden Idioten gepaart. Bumm! Neun Monate später erblickt Dorothea dumm grinsend das Licht der Welt. Tja, meine Gedankenwelt bewegt sich halt im politisch unkorrekten Bereich.
»Guten Morgen, Doro. Nein, ich brauche nicht mehr lange, der ist gleich durch, dann darfst du.«
Jede Wette, dass sie es nicht dabei belassen kann. Sie wird mir unter allen Umständen ein belangloses Gespräch aufs Auge drücken. Sie kann gar nicht anders als …
»Sag mal, Nico, hast du eigentlich die Geschichte mit dem Wegner mitbekommen? Dem soll es ja gar nicht gut gehen.«
Wegner, dieser arbeitsscheue Giftzwerg. Wen interessiert es schon, wie es dem Wegner geht? Der hat doch ständig was. Jetzt erwartet sie eine angemessene Antwort, um den Kopierer-Smalltalk nach den ungeschriebenen Gesetzen der belanglosen Unterhaltung fortzusetzen. Na schön, ich tue ihr den Gefallen, bin ja schließlich kein Unmensch.
»Ja, der arme Wegner. Was war es doch gleich? Die Bandscheibe?«
Oh mein Gott! Was tue ich hier? Bin ich noch bei Trost? Anstatt das Gespräch floskelhaft zu beenden, ziehe ich es unnötig in die Länge. Bravo Nico, du Depp! Jetzt geht das Spiel in die Verlängerung, dabei war ich meinem Ziel, dieses Desaster ohne Umschweife zu beenden, schon so nah. Ein kurzes »Ja, schlimm, aber muss los, bin spät dran« hätte doch vollkommen ausgereicht, um zu entkommen. Jetzt darf ich mir ihre Antwort anhören. Ja, da kommt sie schon. Genau, Dorothea, untermale dein belangloses Geschwafel mit deinen knochigen Händen. Das macht den drögen Monolog gleich interessanter. Und wie lustig das ökologisch nachhaltig hergestellte Holzarmband klackert, während du gestikulierst.
»… aber seine Frau unterstützt ihn auch, wo sie nur kann.«
»Ja, das wird schon. Ich bin mir sicher, er bekommt das bald wieder in den Griff. So, du kannst jetzt. Wir sehen uns in der großen Pause, bis später.«
Geht doch! Warum nicht gleich so? Gemein war es schon, den Kopierer auf hundert Kopien einzustellen, bevor ich mich vom Acker machte. In wenigen Sekunden wird sie hektisch auf und ab laufen, und der neue Kopierer, den sie nicht richtig bedienen kann, wird ohne jede Gnade Papier auskotzen. Doppeltseitig und geheftet. In welche Klasse muss ich eigentlich? War es die 9b oder die 9c? Ach, es ist ja erst Dienstag, also die 9c, was bedeutet, dass ich mich schnaubend in die dritte Etage quälen muss. Bevor ich die Stufen erklimme, gönne ich mir lieber noch schnell einen kleinen Schluck. Die große Thermoskanne ist, neben meinem Butterbrot und ein paar Stiften, ohnehin der einzige Grund, warum ich diesen lächerlichen Pilotenkoffer mit mir herumschleppe. Wow, ich war heute Morgen wirklich nicht ganz bei Sinnen. Die Mischung ist nicht von schlechten Eltern. Gut, dass keiner in der Nähe ist, der die Fahne riechen kann. Schnell runter mit dem Zeug, ist gut fürs Nervenkostüm. Viel hilft viel. Jetzt nur nicht nachlässig werden und den obligatorischen Pfefferminzdrops vergessen. Ach was, lieber zwei.
Fast fünfzehn Jahre lang dasselbe sadistische Spiel, und trotzdem übermannt mich noch immer das Lampenfieber, kurz bevor ich den Klassenraum betrete. Wobei, der Charakter der Aufregung hat sich im Verlauf der Jahre schon verändert. Am Anfang meiner Laufbahn war es noch eine Art von positiv gestimmter Neugier, ein erwartungsvolles Kribbeln im Bauch. Aber jetzt ist alles anders. Heute fühle ich mich beim Durchschreiten der Türschwelle wie ein Apnoetaucher. Exakt in dem Moment, in dem ich den Raum betrete, stockt mir der Atem, und ich versinke Schritt um Schritt in einer für meine Spezies lebensfeindlichen Umgebung. Überleben kann ich nur, wenn ich Ruhe bewahre, keine Schwäche zeige und mir keine groben Fehler unterlaufen. Es kommt auf jedes Detail an, um das labile Kartenhaus aus gespielter Selbstsicherheit nicht in sich zusammenfallen zu lassen. Der Rum im Kaffee hilft ein wenig dabei, die Anspannung im Zaum zu halten. Wie immer fällt mein erster Blick auf die von weißen Schlieren und altem Anschrieb übersäte Tafel, um anschließend für einen Moment auf dem zerkratzen Pult zu verweilen. Zeit, mich ein letztes Mal zu sammeln, ehe ich mich endgültig dazu überwinde, das erste Mal in die Menge zu blicken. Es ist der immer gleiche Moment, in dem sich mir der Magen umdreht und nur eine Frage der Zeit, bis ich mich inmitten des Klassenraums übergebe. Na klar, die dicke Erika kommt als Erste angerannt. Sie ist dermaßen unbeliebt, verzweifelt und einsam, dass sie sich als Einzige aufrichtig über mein Erscheinen freut – wenigstens eine Person, die ihr etwas Aufmerksamkeit schenkt, beziehungsweise berufsbedingt schenken muss. Abgesehen davon bleiben ihr zumindest die härtesten Attacken ihrer Mitschüler erspart, solange sie sich in meinem Dunstkreis aufhält. Und überhaupt, Erika, was für ein selten dämlicher Name! Als ob dieses debile Kind mit seinem Aussehen nicht schon genug gestraft wäre.
»Herr Tannenberger, der Justin hat heute Tafeldienst, aber er ist krank. Soll ich die Tafel für ihn putzen?«
Meine Fresse, kein Wunder, dass dich alle verachten! Wie kann man nur so unterwürfig sein? Fette Made! Hoffentlich quälen sie dich heute wieder in der Pause, wenn die Aufsicht nicht schnell genug zur Stelle ist.
»Mensch, Erika, das ist aber sehr aufmerksam von dir. Ja, wisch bitte die Tafel und setz dich anschließend auf deinen Platz.«
Sie gehorcht aufs Wort und beginnt umgehend mit dem Wischen. Was für ein beschissenes Durcheinander. Und dieser verdammte, nervtötende Lärm. Was fällt diesem ungezogenen Scheißhaufen bloß ein? Die haben doch alle längst mitbekommen, dass ich den Raum betreten habe, trotzdem schert sich niemand einen Dreck um meine Anwesenheit. Früher hatten es die Lehrer noch einfach. Eine bitterböse, versteinerte Miene und ein harter Rohrstock als deutlich erkennbares Zepter der Autorität reichten vollständig aus, um eine angemessene Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Und wagte es jemand dennoch, aus der Reihe zu tanzen, muss das scharfe Zischen des Rostocks, kurz bevor sein Hieb die ausgestreckten Kinderhände zum Anschwellen brachte, wie Musik in den Ohren der Pädagogen geklungen haben. Was für eine wundervolle Komposition aus Zucht, Ordnung und Kindertränen das gewesen sein muss. Und heute? Heute bringen die Seminare den Lehrern nur noch unnützen, politisch korrekten Schwachsinn bei. Leblose Kopfgeburten, die alle Schüler zu individuellen Siegern erklären und höchstens auf dem Papier innenhalb einer akademischen Umgebung funktionieren. Stichwort »Classroom-Management«. Ich lach mich tot. Englische Worthülsen ohne jeden Realitätsbezug, die aber dafür umso wichtiger daherkommen, je inhaltsloser sie sind. Gebt der Belegschaft die Rohrstöcke zurück! Ihr werdet dann schon sehen, wie schnell sich die Pisa-Resultate zum Guten wenden.
Ach, sieh mal einer an. Die Dicke ist mit Tafelwischen fertig und steht jetzt regungslos vor mir. Sie gleicht einer stupiden Maschine, die man mit eindeutigen Instruktionen füttern muss, damit sie ihren Dienst tut.
»So, würdet ihr bitte eure Plätze einnehmen und still sein? Auch du, Erika. Der Unterricht hat begonnen. Jan, kannst du bitte kurz zusammenfassen, womit wir uns in der vorausgegangenen Unterrichtsstunde befasst haben?«
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