Zu Hause wurden dann laute Wehklagen über das verlorene, imaginäre Kind angestimmt - die Umgebung spielte mit. Sie führten im allgemeinen ein ruhiges, friedliches und geachtetes Leben und identifizierten sich vollkommen mit Ihrem angenommenen weiblichen Status. Dies ging sogar soweit, daß sie sich daran beteiligten, wenn andere Frauen solche Männer, die nicht auf den Kriegspfad gehen wollten, lächerlich machten bzw. auslachten.
Auch bei etlichen anderen indianischen Stämmen gab es Berdachen vielgestaltiger Art, so beispielsweise bei den Yurok-Indianern in Nord-Kalifornien, hier Wergern genannt. Die Berdachen waren dort sehr zahlreich vertreten: Man sagt, daß einer von hundert Männern es vorzog, die Rolle der Frau sowohl in sozialer als auch in sexueller Hinsicht zu übernehmen. Die Wergern wurden hochverehrt und stiegen oft zu hoch angesehenen Medizinmännern und Häuptlingen auf: Ihnen wurden auch die höchsten Ehren übertragen, die diese Stammesgesellschaften zu vergeben hatten, d.h. das Berühren und Bestatten von Verstorbenen. Bei Begräbnissen und Trauerfeiern betätigten sie sich oft als Vorsänger und Vortänzer.
Bei den Navahos in Neu-Mexiko waren sowohl Hermaphroditen als auch Transsexuelle hoch angesehen, man nannte sie dort Nadle. Erstere waren die echten Nadle, die anderen waren die, die behaupteten, Nadle zu sein. Die Nadle galten als überaus reich und glücksbringend, und die gesellschaftliche Hochachtung für sie rührte nicht zuletzt daher, daß sie, so die Überlieferung, im Urstreit zwischen Männern und Frauen sich auf die Seite der Männer gestellt hatten: Auf diese Weise gelang es ihnen, die Frauen zu besiegen...
Hier kommt nun ein völlig neuer Aspekt des Weibmanntums nach Berdachenart hervor: Die Kontrolle der biologischen Frauen, beispielsweise bei der Beaufsichtigung der Feldarbeit. Die Nadles waren dann auch in fast allen wichtigen gesellschaftlichen Berufen vertreten bzw. verwalteten diese, so zum Beispiel beim Weben, Töpfern, Körbemachen, Hausarbeiten, bei der Schafzucht usw. Sie konnten auch als Familienoberhaupt handeln und über das kollektive Eigentum verfügen. Sie galten legal als Frauen, hatten Beziehungen zu beiden Geschlechtern und waren auch künstlerisch hervorragend ausgebildet. Dennoch hatten sie wesentlich mehr Einflußmöglichkeiten als die biologischen Frauen: Sie stellten mehr oder weniger eine Kaste von Frauen gemäß männlichen Wunschdenkens dar, Frauen ohne Probleme sozusagen. Allerdings muß in diesem Zusammenhang nochmals ausdrücklich hervorgehoben werden, daß sich ein solch ausgeprägtes Berdachentum, wie es oben beschrieben wurde, nur auf der Grundlage der strengen, geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung indianischer Kulturen entwickeln konnte. Die entsprechende Spezialisierung war typisch indianisch. "
In der taz vom 08.03.1994 fand ich noch einen Bericht mit dem Titel "Weibmänner und Mannweiber" über das derzeitige Berdachentum bei den Navajos, jetzt Nadleehè genannt. Darin berichtet der Nadleehè Wesley Thomas u.a.:
" Ein richtiger, traditioneller Nadleehè (heißt "gewandelt") ist in der Navajo-Gesellschaft auch heute noch ein Mensch, der als Mann geboren ist, aber zu hundert Prozent als Frau gilt. Nicht wegen seiner sexuellen Vorlieben, sondern wegen der Arbeit, die er verrichtet. Dasselbe gilt umgekehrt für weibliche Nadleehè, die als Mann leben und arbeiten. "
Aus dem Interview geht weiter hervor, daß die Navajo vier Geschlechter kennen: die Frauen als das erste, die Männer als das zweite, die Mannweiber als das dritte und die Weibmänner als das vierte - außer dem biologischen Geschlecht (Sex) gibt es im ebenbürtigen Sinne noch die soziale Geschlechterrolle (Gender). Bei seinem Stamm genießt Wesley Thomas (lebt teilweise in Seattle als Ethnologe, teilweise im Reservat) einen besonderen Status: Nadleehès gelten als "two-spirited-people", also als Wesen, die zwei Geister in sich vereinen. Sie sind hoch angesehen, gelten als besonders inspiriert und werden zu religiösen Handlungen und als Vermittler und Berater herangezogen. Außerdem sind sie in den Augen der Stammesmitglieder als "wohlhabend" eingestuft, allerdings nicht unbedingt im materiellen Sinne, sondern in der Bedeutung von "reich an Wissen". Eine sehr schöne Assoziation! Weiter berichtet Wesley Thomas, daß er mit Männern in festen Beziehungen lebt und dabei sein Nadleehè-Status dominiert d.h. der sogenannte Genderbereich ausschlaggebend ist. Hierzu führt er aus:
" Wer schwul oder lesbisch ist, verkehrt mit Personen vom selben Sex und selben Gender. Wenn ich einen Mann liebe, gehören wir zwar zum selben biologischen Geschlecht, aber nicht zum selben sozialen Geschlecht. Wir werden eben nicht als gleichgeschlechtlich betrachtet. Ich werde ja auch nicht als Mann klassifiziert: Ich bin eine Frau. Meine Lebenspartner sind deshalb auch keine homosexuelle, sondern heterosexuelle Männer. "
Das Ganze geht soweit, daß, würde Wesley Thomas als Weibmann eine Frau lieben, wäre er für seine Familie und seinem Stamm gerade ein Homosexueller. Und das würde negativ sanktioniert werden...!"
Wie bereits mehrfach ausgeführt, gab bzw. gibt es unendlich viele Geschlechtswandel-Phänomene auf der ganzen Welt. In meinem Sachbuch "Mythos Geschlechtswandel" berichte ich u.A. noch über die Bräuche im sibirischen Raum (auf Schamanismus-Grundlage), in Indonesien ("manang-bali" auf Borneo), in der Südsee (Mahus auf Tahiti), in Afrika (Angola, Uganda, Nuba-Stämme, Sansibar usw.), in China, in Japan, im arabischen Raum (Xanithen in den Golfstaaten, speziell Oman, 1977 von der Ethnologin Unni Wikan entdeckt und angeblich mit einem Vorkommen von 1:50). Im Sachbuch "Künstliche Geschlechter" werden all diese Variationen weiter vertieft.
Leider muß ich es im Rahmen des heutigen Vortrags bei der vorgenannten Erwähnung belassen, denn die gesamte Geschlechtswandel-Thematik ist, wie bereits mehrmals erwähnt, mit allen seinen Variationen und Manifestationen ungeheuer umfangreich und vor allem überaus lehrreich: Panoramablick eben - statt Tunnelblick ...! Die Medien haben dies inzwischen gleichfalls erkannt und berichten beispielsweise ausführlich über die in die Hunderttausenden gehende Gilde der Hrinjas in Indien, die sich selbst kastrieren. Bezeichnenderweise sprechen diese Medien dabei immer noch von Eunuchen und stellen vorzugsweise der Prostitutionsaspekt in den Vordergrund. Letzteres ist auch in den westlichen bzw. westlich-orientierten Kulturen feststellbar, denn Homosexualtität (und damit "Weiblichkeit" ...!) als "Makel" der Männlichkeit ist noch immer ein bequemer Sündenbock.
Schließlich werde ich diesen Vortrag über die Thematik "Transsexualität: ein kultureller Vergleich" (wie heißt es so schön in Goethes Faust: "Da steh ich nun, ich armer Tor") noch abschließen mit einigen Hinweisen zu den Geschlechtswandel-Vorkommnissen rundum das Wirken des Berliner Sexualforschers Magnus Hirschfeld vor etwa 100 Jahren. Von ihm stammt die überaus bekannte und weitsichtige Aussage (für die damalige Zeit sehr provozierend):
"Der Mensch ist nicht Mann oder Weib, sondern Mann und Weib"
Magnus Hirschfeld (1868-1935) wurde gleichfalls bekannt durch die Gründung 1919 des Berliner Instituts für Sexualwissenschaft. Vom preußischen Staat als Stiftung anerkannt, wurde dieses Institut von den Nazis 1933 geplündert und zweckentfremdet. Seine über 12.000 (!) Schriften wurden öffentlich verbrannt - man munkelt nichtzuletzt deswegen, da dort viele Nazis als Patienten geführt wurden. Im gleichen Sinne überaus wegweisend waren die von ihm herausgegebenen "Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen", in welchen Dr. F. Karsch-Haack im Jahre 1901 seinen viel beachteten Aufsatz "Uranismus oder Päderastie und Tribadie bei den Naturvölkern" publizierte (im Jahr 1911 erschien dann dessen Hauptwerk "Das gleichgeschlechtliche Leben der Naturvölker"), wegweisend für die gesamten Naturvölker - Forschung der nachfolgenden Jahren. Ebenso viel Aufsehen erregte in jener Zeit L.S.A.M. von Römers Beitrag: "Über die androgynische Idee des Lebens" in der Ausgabe 1903 II.
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