Castori ließ sich am Fußende auf einem Stuhl nieder und rang sich zu einem Lob durch: „Jetzt haben Sie alles richtig gemacht.“
Specht schluckte verlegen.
Castori wartete zwei Minuten. Dann sagte er: „Im letzten Jahr haben Sie erstaunliche Erfolge erzielt und ich
möchte Sie dafür mit dem Geheimnis der Fünfundzwanzig belohnen.“
Castori setzte sich zu Specht aufs Sofa. Specht rutschte irritiert an die Wand. Das hat er noch nie getan.
„Sie sind etwas Besonderes“, sagte Castori und zählte eine Minute lang stumm die Schläge von Spechts flach pulsierender Halsschlagader. Hundertzweiunddreißig, er ist aufgeregt, sehr gut.
Dann verkündete er feierlich: „Das Geheimnis der Fünfundzwanzig ist: Sie sind etwas Besonderes. Wenn all Ihre Probleme gelöst sind, überraschen Sie die Welt mit einer bahnbrechenden Erfindung.“
Spechts Stimme klirrte gläsern, als er erwiderte: „Das wäre dann allein Ihr Verdienst. Ich könnte Ihnen niemals einen Wunsch abschlagen.“
„Ruhen Sie sich jetzt aus. Ich bleibe noch einen Moment bei Ihnen.“
Castori setzte sich wieder ans Fußende und spottete: Du Dummkopf wirst doch nicht glauben, dass ein Wicht wie Du auch nur das Geringste von mir erfährt.
Die Bewohner der Fünfundzwanzig verkehrten in den allerhöchsten Regierungskreisen. Ihre Nähe zu den Mächtigen hatte Castoris Begehrlichkeiten geweckt: Sie locken unsere Volksvertreter zu mir ins Sanatorium, wo ich sie dann zu Handlangern meines politischen Willens umfunktioniere.
Specht nahm noch wahr, dass Castori die Tür hinter sich zuzog, dann schlief er ein.
Castori eilte in seine Wohnung in der zweiten Etage und sagte leise: „Ich will das Universum beherrschen.“
Gäste oder andere Störenfriede hatten hier oben nichts verloren. In den lichten und spärlich möblierten Räumen plante er ein Reich, dass die Welt so noch nicht gesehen hatte.
Er sah sich als Visionär und edlen Samariter: „Ich tue nichts Unrechtes, die Menschen verlangen nach Gesetzen und ich bin bereit, sie ihnen zu geben.“
Castori betrat sein Büro – sein Reich. Groß wie ein Tanzsaal und das eleganteste Zimmer des Hauses. Ein einzelner verlor sich darin. Nur die lebensgroßen Gemälde verstorbener Großindustrieller und Kaiser, in deren Ruhm er sich sonnte und den er um ein vielfaches zu übertreffen gedachte, leisteten ihm Gesellschaft.
Castori sperrte die Tür ab und ging zu einem ausladenden Palisanderholzschreibtisch, der zwei Meter vor einer in bunten Ölfarben gehaltenen Weltkarte im Raum stand.
Er schaltete einen Halogenstrahler ein und drückte auf den Knopf einer Fernbedienung. Schwere Vorhänge schoben sich leise rauschend vor eine breite Fensterfront und sperrten unerwünschte Blicke aus.
Von seinen geheimen Spielereien jedes Mal aufs Neue fasziniert, rückte Castori am Schreibtischfuß einen Riegel nach rechts, er drückte die Seitenfront zu den Vorhängen hin und entnahm einer von zehn paarweise angeordneten Schubladen
einen silbernen Schlüssel. Er ließ mit der Fernbedienung das Weltkartengemälde zur Seite fahren, öffnete mit dem silbernen Schlüssel die dahinterliegende Vitrine und mit einer täglich wechselnden Zahlenkombination den darin eingebauten Tresor.
In einer Regalwand mit zwanzig Fächern waren im obersten Rechten zehn Tablettenröhrchen aneinandergereiht. In den übrigen lagerten Aktenordner und rote Medikamentendosen.
Castori wuchtete einen prallen Ordner auf den Schreibtisch,
stellte eine rote Medikamentendose daneben und klappte Spechts Akte auf.
Er drehte den Bürosessel schwungvoll um, legte die Hände auf die glänzenden Chromlehnen und ließ sich in das edle Leder sinken.
Sein sehnsüchtiger Blick schweifte an den Wänden entlang. Zwar reichte das Licht der Schreibtischlampe nicht bis an die einflussreichen Stahlbarone und bärtigen Kaiser heran, doch die Bilder seiner Idole trug er im Herzen.
Er schraubte seinen Füller auf und schrieb mit roter Tinte unter die Überschrift Verlauf: „Ich habe Angst vor diesem Sommer.“
Während er sich fragte: „Ahnt er, was er für mich tun soll oder hat er mein falsches Spiel durchschaut? Ich muss ihm seine Grenzen aufzeigen, bevor er Gefallen an der Freiheit findet“, malte er sich den Verlust von allem, wofür er Specht aufgebaut hatte, aus: Den Einfluss auf Politiker, die seinen Aufstieg in der Hierarchie des schwarzen Zeichens, zur Überraschung aller, unerwartet schnell vorantreiben würden.
Castori streckte sich nach zwei randvollen Tablettenröhrchen, stützte die Arme auf die Rückenlehne und betrachtete die bunten Pillen, über deren Rezepturen er sich nächtelang den Kopf zerbrochen hatte.
In seinem Labor auf der anderen Seite der Galerie brodelten in Reagenzgläsern bunte Flüssigkeiten, die er zu Arzneien vermengte, die ihm verschaffen sollten, wovon er nie genug bekam: Macht!
Bisher war ihm nicht wohl dabei gewesen, die neuen Wundermittel seinen Gästen in ihre roten Medikamentendosen zu legen. Denn beide bargen Gefahren, die unter Umständen selbst für einen erfahrenen Arzt wie ihn, nicht zu mehr beherrschen waren. Schlimmstenfalls würde er Specht ganz verlieren.
Aber nach Spechts überraschendem Geständnis brauchte es ein riskantes Manöver, um das verlorene Schaf wieder in Herde zurückzutreiben.
Zwei Tabletten schienen ihm geeignet, Specht an seinen Eigenmächtigkeiten scheitern zu lassen. Die Blaue, die seinen Verstand umnebeln und die Grüne, die ihn mit Lähmungen ans Bett fesseln würde.
„Ich werde ihm seine Flausen schon abgewöhnen. Er soll mich für meine Almosen bewundern und ansonsten den Mund halten.“
Um achtzehn Uhr ertönte in der ersten Etage ein gedämpfter Summton. Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Die Dame aus Zimmer eins schlurfte die Treppe hinunter, schnappte in der Halle nach Luft und quälte sich ins Kaminzimmer. Sie ließ sich in einen grünen Sessel, dessen Rückenlehne mit einer roten Eins bestickt war, fallen und schaute zur Tür.
Alle zwei Minuten, als hätte jemand die Uhr gestellt, schleppte sich ein Gast zu dem Sessel mit seiner Zimmernummer, um den Balsam für sein strapaziertes Seelenleben entgegenzunehmen.
Specht grub seine Fingerkuppen in den senfgelben Sofabezug und flüsterte: „Gleich bin ich an der Reihe. Ich muss pünktlich sein, darf den genauen Zeitpunkt auf keinen Fall verpassen.“
Mit wippendem Oberkörper, ihre Füße fest im schweren Teppich verankert, sehnten Castoris Gäste den Moment herbei, in dem ihr Erlöser erschien, um ihren dumpfen Sinnen wieder Leben einzuhauchen.
Endlich war es soweit. Castori betrat gut gelaunt den Raum.
Die Arme der Anwesenden lagen verkrampft auf den Lehnen, nur ihre Augen folgten Castori, der sich in einem dunkelroten Sessel niederließ und jedem freundlich zunickte.
Die Gesichter der Wartenden entspannten sich und Castori unterdrückte ein gönnerhaftes Grinsen. Er verschenkte eine Extraportion seines Lächelns und spöttelte: Meine armen naiven Gäste befolgen meine Anweisungen und sind glücklich dabei. Ihre Seelen sind in meiner Hand; ihre Anspannung, ihre Ängste und jede noch so kleine Freude. Ich diktiere ihnen ihre Gefühle und will mehr als nur diesen armseligen Teil der Welt beherrschen.
Castori federte aus seinem Sessel, hieß alle willkommen, erzählte von einer geplanten Erweiterung des Sanatoriums und
bedankte sich für das ihm entgegengebrachte Vertrauen, für das er sie mit überschäumender Lebensfreude tausendfach entlohnen würde.
Während er monologisierend die Front der Zuhörer abschritt, studierte er aus den Augenwinkeln heraus jeden einzelnen von ihnen genau.
Sie leiden wieder. Nur Specht hebt sich von den anderen ab. Er hält sich aufrechter als der übrige traurige Haufen und seine Augen leuchten warm. Es geht ihm zwar schlecht, aber noch nicht schlecht genug, diagnostizierte Castori verdrossen.
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