Ich will nicht krank sein und vor Problemen sind selbst Helden nicht gefeit.
Specht ahnte nichts von Paragraf drei, der aus der Scham aller, die ähnliches wie er durchmachten, entstanden war: „Psychische Krankheiten sind hässlich und abstoßend. Die Menschen decken sie mit eisernem Schweigen zu. Niemand will sich das Etikett eines Schwächlings an die Brust heften, um am Rand der Gesellschaft ein Schattendasein zu fristen und zu hoffen, irgendwann einmal ein Quäntchen Glück von den Tischen der Privilegierten zu erhaschen. Probleme sind etwas Alltägliches – für sie braucht sich niemand zu schämen.“
Paragraf drei garantierte Castori, an allen Tagen des Jahres, ein ausgebuchtes Haus.
Der vornehm hagere Castori schritt die Treppe herunter und Specht flüsterte beeindruckt: „Diesen Moment habe ich herbei gesehnt.“
Castori, der dunkle Kleidung bevorzugte, weil alles Grelle den Massengeschmack bedient, trug einen schwarzen Maßanzug und lächelte wohlwollend. Specht errötete und dachte: Er lächelt mich an.
Castori, der Spechts Verlegenheit bemerkte, war überzeugt: Bald schlägt er mir selbst die absurdeste Bitte nicht ab.
Gleich gibt er mir die Hand, durchfuhr es Specht, während er der persönlichen Begegnung mit seinem Retter entgegenfieberte.
Castori breitete auf der untersten Treppenstufe die Arme aus: „Mein lieber Doktor Specht, schön Sie wieder hier zu haben.“
Mein Lieber, er hat mein Lieber gesagt, freute sich Specht aufgewühlt. Ihm zitterten die Knie, als Castori auf ihn zukam. Er drückte seinen Oberarm noch enger an seinen Brustkorb und hielt Castori steif die Hand hin.
Castori griff beherzt zu: „Sie zittern ja.“
Und während er Spechts Hand beinahe väterlich mit seinen Händen umhüllte, versprach er gespielt warmherzig: „Die neuen Medikamente bewirken Wunder.“
„Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für all das, was Sie für mich tun, danken soll.“
„Mein lieber Doktor Specht, eines Tages werde ich Ihre Hilfe ebenso dringend benötigen wie Sie heute die meinige.“
Specht nickte ergeben und Castori dachte: Ich kann den Tag, an dem er bereit ist für mich ins Gefängnis zu gehen, kaum erwarten.
Castori gab Spechts Hand wieder frei und sagte: „Es ist an der Zeit, gehen wir nach oben.“
Die kargen Schlafkammern in der ersten Etage hatte Castori zu eleganten Gästezimmern mit luxuriösen Marmorbädern umbauen lassen.
Castori sagte zu Specht gewandt: „Folgen Sie mir bitte und lassen Sie Ihren Koffer stehen. Der Chauffeur wird ihn nachher auf Ihr Zimmer bringen.“
„Meinen Koffer gebe ich nicht aus der Hand.“
„Wie Sie wünschen.“
Castori ging voraus. Für ihn war es ein Kinderspiel, Spechts Reaktionen einzuschätzen. Er kannte ihn einfach zu gut und vermochte ihn geschickt zu lenken.
Specht bückte sich nach seinem Aktenkoffer und schaute mit großen Augen zu Castori auf, der wie ein Herrscher durch sein Reich stolzierte.
Castori fühlte Spechts bewundernde Blicke in seinem Rücken und sagte sich: Macht ist ein subtiles Gebilde, zusammengesetzt aus scheinbar bedeutungslosen Mosaiksteinchen. Eine Fessel reiht sich an die nächste und webt daraus ein Gefängnis. Überstürzt man nichts und sorgt für reichlich Zerstreuung, empfinden die Massen keinen Verlust und loben die neue Zeit.
Specht quälte sich hinter Castori am Treppengeländer nach oben. Er wollte nicht zu weit zurückfallen, doch dann genehmigte er sich doch eine Sekunde der Bewunderung für
Castoris vornehme Erscheinung: Er allein beherrscht die Kunst, mich wieder ganz gesund zu machen. Wenn ich alle seine Ratschläge gewissenhaft befolge, werde ich von meinen Leiden erlöst und mein Versteckspiel hat endlich ein Ende.
Und genau in diesem Moment, als ob er geahnt hätte, was Specht gerade dachte, nickte Castori ihm aufmunternd zu. Specht errötete verlegen und lief los.
Castori wartete, bis Specht ihn erreicht hatte.
„Danke“, hauchte Specht, ohne zu wissen, für was er sich bedankte.
„Sie sind mein gelehrigster Schüler.“
Specht und Castori trafen beinahe zeitgleich auf der weitläufigen Galerie in der ersten Etage ein.
„Die Fünfundzwanzig“, sagte Castori betont feierlich und überreichte Specht den Zimmerschlüssel.
„Die Fünfundzwanzig, danke. Ich habe ihre Geborgenheit aufs Schmerzlichste vermisst. Sie ist mein Zufluchtsort vor den Lasten des Alltags.“
„Gehen Sie nur.“
Zimmer fünfundzwanzig befand sich zwischen Zimmer vier und sechs.
„Zimmer fünfundzwanzig?“, hatte Specht Castori deshalb verwundert gefragt, als ihn Castori zum ersten Mal über die Galerie führte und ihm aufgefallen war, dass offenbar nur zehn Zimmer vorhanden waren.
„Sie sind etwas Besonderes und nur Ihnen gebührt die Ehre das Geheimnis der Fünfundzwanzig eines Tages mit mir zu teilen“, hatte Castori damals, verschwörerisch flüsternd, geantwortet.
Specht stellte seinen Aktenkoffer vor der Fünfundzwanzig ab und drehte den Schlüssel um. Sein Magen schmerzte und erst als Castori sagte: „Sie sind daheim“, wagte er es, die Tür zu öffnen und das verdunkelte Zimmer zu betreten.
Nur durch einen Spalt zwischen den schweren Samtvorhängen fiel Licht in den Raum.
Specht schaute Castori flehend an und sagte: „Ich habe Angst vor diesem Sommer.“
Castori hustete aufgeregt und dachte nach.
„Ich habe Angst vor diesem Sommer“, dieses Geständnis versetzte Castori in allerhöchste Alarmbereitschaft. Diese Angst hatte er nicht geplant.
Ahnt er etwas, fragte er sich und antwortete: „In diesem Sommer offenbare ich Ihnen das Geheimnis der Fünfundzwanzig.“
„Das Geheimnis?“
Castori forderte Specht auf: „Setzen wir uns.“
Specht reagierte prompt. Er lief auf das Sofa in der linken Zimmerecke zu, zog seine Schuhe aus, verknotete jeden Schnürsenkel zu einer akkuraten Schleife, stellte die Schuhe neben dem Kopfteil ab, legte sich nieder und blickte Castori erwartungsvoll an.
Castori hüstelte und Specht zuckte erschrocken zusammen. Hüsteln bedeutet Kritik.
Er überlegte fieberhaft: Schuhe ausziehen, neben das Kopfteil stellen, auf die Couch legen, Augen schließen und erst wieder öffnen, nachdem Professor Castori das Zimmer verlassen hat.
Specht drückte seine Augen zu und murmelte: „Entschuldigung.“
„Sie wissen warum?“
„Mit geschlossenen Augen fällt es mir leichter, mich auf
unser Gespräch zu konzentrieren. Nichts lenkt mich ab und ich bin bald wieder ganz gesund.“
Castori nannte seine Therapiestunden Besuche, während derer seine Gäste ihre Augen zu schließen hatten. Die rasche Aufarbeitung ihrer Probleme war der eine Grund, der andere war, dass Castori sich extrem unwohl fühlte, wenn sie ihn ansahen während er sie therapierte. Er fühlte sie dann seine freundliche Maske sezieren und seine Verachtung enthüllen, während sie ihm ihr Leid anvertrauten.
Castori ist eine therapeutische Koryphäe. Sein Fachwissen, gepaart mit hochsensiblen Antennen, die jedes noch so feine Gefühl einfingen, war das Erfolgsgeheimnis für die rasche Genesung seiner Gäste. Er blühte auf, wenn gebrochenen Herzen wieder Flügel wuchsen.
Aber gleichzeitig beherrschte ihn die Angst, von seinen Gästen einsam zurückgelassen, mutterseelenallein durch sein fürstliches Anwesen zu irren.
Er war schon einmal, am Drama des Verlassenwerdens zugrunde gegangen und seither wachsam darauf bedacht, seinen Stolz nie wieder brechen zu lassen. Um sich vor dem Schmerz verletzter Gefühle zu schützen, entwickelte er eine Behandlungsmethode, die sich wie ein Karussell auf dem Jahrmarkt drehte. Die Evergreens aus der Drehorgel lockten die Kundschaft zu den nostalgischen Figuren. Castori mischte sich unters Volk, kassierte das Fahrgeld und wies jedem sein Karussell zu. Das beschauliche Kreisen bereitete Vergnügen und lenkte von der inneren Zerrissenheit ab. Waren die fruchtlosen Wiederholungen zur Gewohnheit geworden, beendete Castori den Trubel. Er bat jedem ihn recht bald wieder zu beehren und empfing die Nächsten. So vergingen die Tage und innerhalb eines Jahres, zog es jeden wieder zum Jahrmarkt. Heute war Specht an der Reihe.
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