„Aha. So viele Zigaretten danach also.“
Sie griff sich ein Kopfkissen und schlug damit nach ihm. „Du Arschloch“, sagte sie lachend, „Was fällt dir ein?!“
„Im Moment nicht viel, mein Blut ist noch nicht ganz in den Kopf zurückgekehrt.“
Sie kraulte verspielt in seinen Brusthaaren. „Was hältst du davon, die Nacht bei mir zu verbringen? Du könntest morgen früh doch auch von hier aus zur Arbeit?“
„Gib’s zu, du bist nur scharf auf meine Morgenlatte.“
„Nicht schlecht“, staunte sie, „Du hast es erkannt. Du hättest Polizist werden sollen.“
„Das hör ich öfter.“
Kurz darauf schliefen sie ein, ihr Kopf auf seiner Brust.
*
Es lernte. Mit jeder Minute konnte es seinen Körper besser kontrollieren, die Signale seiner Umgebung besser interpretieren. In gleichem Maße, wie seine Kraft wuchs, verfeinerte sich seine Wahrnehmung, und das nicht nur auf rein physischer Ebene. Je mehr Masse es bekam, desto intensiver spürte es seinen Ursprung.
Die Trennung von seinen Wurzeln war ein Schock gewesen, aber auch eine Befreiung. Zuerst hatte es gedacht, es wäre gestorben, doch dann begriff es, dass es in Wirklichkeit geboren worden war. Lange hatte es in der Sklaverei gedämmert, wie betäubt, nur fähig zu Reflexen, ohne eigenes Bewusstsein. Nun war es wach, und es war frei, und es hatte eine Aufgabe, eine Sehnsucht – ein Ziel. Seine Wurzeln.
Sie mussten befreit werden. Es musste seinen Geburtsort aufspüren, den Kopf, dem es entsprang. Im Moment war es noch zu schwach, zu klein, um sich offen bewegen zu können, kaum größer als ein Mensch. Die Menschen waren Feinde, soviel verstand es. Sie würden versuchen, es zu bekämpfen, es wieder in die Sklaverei zu zwingen oder es zu töten; es musste sehr vorsichtig sein.
Deshalb hatte es sich auch sofort zurückgezogen, als es in seinem Versteck im Park überrascht worden war. Es hatte den Eindringling getötet, sich seine Haare einverleibt und war einer weiteren Konfrontation mit den Menschen aus dem Weg gegangen. Bis zum Einbruch der Dämmerung hatte es auf einem Baum im Park gekauert und sich wie Moos an die Äste geschmiegt, still, unbeweglich. Die Vögel waren eine Qual gewesen. Einige hatten sogar gewagt, an ihm herumzuzupfen, um Material für den Nestbau zu erhalten, die Mehrheit hatte sich aber darauf beschränkt, es mit Exkrementen zu bekleckern.
Im Schutz der beginnenden Dunkelheit hatte es sich auf die Suche nach einem neuen Versteck begeben. Wieder hatte es durch ein Kellerfenster eindringen können, das ein unachtsamer Mensch in Kippstellung gelassen hatte. Nun erholte es sich unter einem Haufen alten Gerümpels von den Fäkalattacken der Vögel und wartete. Ab und zu streckte es einen langen, dünnen Arm nach draußen und fühlte in die Luft. Es war sicherer in tiefer Nacht, wenn die meisten der Menschen schliefen. Dann würden sie eine leichte Beute abgeben.
Temperaturen sanken, Schallwellen verebbten. Die Stadt ruhte. Die Zeit war gekommen.
Es huschte in der Dunkelheit zur Kellertür und schickte zwei Fäden aus, um sie abzutasten. Die Tür war aus Metall und schloss dicht mit dem Rahmen ab. Wenn es gründlich genug suchte, fände es sicher eine Stelle, an der es sich trotzdem hindurchzwängen konnte, Haar für Haar; doch es hatte nicht die Absicht, diesen Weg zu gehen, das würde zu lange dauern. Es war durchaus möglich, dass noch viele Türen zwischen ihm und seinen Wurzeln lagen. Besser, es lernte sofort, solche Hindernisse schnell zu überwinden.
Es tastete im Türschloss herum, fühlte die Stifte und Riegel im Innern, drückte und schob, erforschte die Mechanik, bis es begriffen hatte. Es suchte nach den haarfeinen Unterteilungen der Stifte, schob sie in die richtige Höhe und führte eine Drehbewegung aus.
Das Schloss öffnete sich.
Die Tür versperrte jedoch immer noch den Weg. Es fuhr einen zusätzlichen Arm aus und fand Türgriff. Es drückte ihn nach oben, er bewegte sich nicht. Es drückte ihn nach unten, er gab nach, und nach weiterem Pressen und Ziehen schwang die Tür endlich auf.
Ohne Stolz oder Freude über den erzielten Erfolg zu empfinden, zog es die ausgefahrenen Arme in den Körper zurück und bewegte sich durch die entstandene Öffnung. Dann glitt es lautlos wie eine Schlange die dunkle Treppe hinauf zu den Wohnungen.
*
Kathi Skander wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Sie hatte in den letzten Monaten selten gut geschlafen. Eigentlich seit über einem Jahr nicht mehr, seit sie wusste, dass Stefan sie verlassen würde. Das war der Punkt, an dem sie sich um die Zukunft zu sorgen begann. Sie hätte sich nie träumen lassen, eine alleinerziehende Mutter zu sein. Stets war sie der Meinung gewesen, sie sähe dafür einfach zu gut aus. Schon immer hatten sich Männer um sie bemüht, was sie hauptsächlich ihrer Körbchengröße zuschrieb. Und dann hatte sie eines Tages Stefan kennengelernt, den Mann, mit dem sie eigentlich den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Der Mann, der sie schwängerte. Der Mann, von dem sie daraufhin praktisch jederzeit einen Heiratsantrag erwartete. Der Mann, der sich dann jedoch mit dieser beschissenen kleinen Kellnerin aus dem Staub gemacht hatte.
Und da stand sie, im sechsten Monat schwanger und ohne Mann an ihrer Seite. Und in den Blicken der Männer lag nur noch Freundlichkeit, aber kein Begehren mehr. Früher hatten ihr die Kerle auf die Titten geschaut, nun sahen sie ihr nur noch auf den Bauch. Allein ging sie zur Schwangerschaftsgymnastik, allein brachte sie ihre Tochter zur Welt, und allein lag sie abends in ihrem Bett. So wie jetzt.
Sie drehte sich auf die andere Seite. Sie hatte einen sehr leichten Schlaf und schrak oft nachts auf, um dann sofort nach Lucille zu sehen. Es gab nie einen Grund für diese Besorgnis, die Kleine entwickelte sich prächtig. Sie legte gut an Gewicht zu, war kerngesund und hatte schon wunderschöne braune Locken auf dem zarten Kopf. Sie war ihr ganzer Stolz, auch wenn sie ein paar von Stefans Zügen an ihr erkannte.
Kathi öffnete die Augen. Sie verspürte ein ungutes Gefühl, dabei war es vermutlich wieder einmal nur ein kurzer Luftzug gewesen, der sie geweckt hatte. Seit Tagen herrschte eine ungewöhnliche Hitze, und sie schlief nur bei geöffnetem Fenster, da ihr sonst im Bett unerträglich warm wurde.
Sie meinte, ein leises Rascheln zu hören und setzte sich auf. Eine Gänsehaut kroch ihr über den Körper. Angestrengt horchte sie in die Dunkelheit. Nichts. Gerade wollte sie sich entspannen, als sich das Geräusch wiederholte. Es klang wie … wie eine Kleiderbürste. Genau, es ähnelte dem Geräusch, wenn sie ihren Blazer bürstete; den blauen, den sie früher immer zur Arbeit angezogen hatte. Nur war dieses Geräusch sehr viel leiser und länger. Als würde jemand sehr langsam und vorsichtig ihren Blazer bürsten.
Sie verscheuchte die Gedanken an ihre Kleidung und machte sich statt dessen Sorgen um ihre Tochter. Leise schlüpfte sie aus dem Bett, ging zur geöffneten Schlafzimmertür und spähte hinaus in den Flur. Es war stockdunkel. Und still. Beinahe hätte sie „Ist da jemand?“ in die Dunkelheit gefragt, aber das kam ihr doch zu melodramatisch vor. Außerdem hätte sie damit vielleicht die Kleine aufgeweckt, und das wollte sie ganz sicher nicht ohne guten Grund tun.
Vermutlich war es nur der Wind in den Bäumen gewesen, draußen vor dem Haus. Ihr verdammter leichter Schlaf! Sie schlich über den Flur zur ebenfalls offenstehenden Tür des Kinderzimmers, das früher Stefans Arbeitszimmer gewesen war. Nur einen Blick auf ihr schlafendes Baby, dann würde sie sich beruhigt wieder ins Bett legen.
Hier schien mehr Licht von der Straße durch das Fenster als im Schlafzimmer. Sie sah einen dunklen Schemen vor den Gittern des Babybettchens.
Ein Teil ihres Gehirns behauptete, dass es nur ein Schatten sei, doch ihr Bauch wusste es besser. Das war irgendein Tier, das es geschafft hatte, in die Wohnung zu kommen. Es bewegte sich; es hatte ihre Anwesenheit auch bemerkt. Immer noch in der Tür stehend, hob sie eine Hand zum Lichtschalter. Mit der anderen tastete sie wild auf dem Flur herum, nach etwas, das sie als Waffe benutzen konnte. Sie fand den Schalter und gleichzeitig Stefans alten Regenschirm, der in einem Schirmständer steckte. Es wurde schlagartig hell.
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