Copyright © 2016 Peter Gabriel, Drensteinfurt
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Umschlag und Satz: Peter Gabriel, Berlin
Druck und Verlag: epubli, Berlin
ISBN: 978-3-7418-2280-3
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Mit hochachtungsvollem Glück-Auf
Paradetöpfe
Sommerferien in Mitau
Das Festessen
Die Hohenzollernschule
Der Garten
Der Nibelungenschatz
Der alte Bahnhof
Juanito
Das Totwasser
Mannis Holzschuhe
Die Handtasche
Der Knirps
Die Güldentröge
Rote Vollballonreifen
Das blinde Pferd
Fliegeralarm um halb acht
Fundsachen
Martinsgänse
Ein Tag im September
Schnürsenkelersatz
Mrugalla müsste man heißen
Probezeit
Grete und Franz
Der Glückspilz
Stutenkerle
Die serbische Fichte
China-Restaurant Hongkong
Kristallnacht
Christvesper im Nonnenbusch
Zum Autor
Mit hochachtungsvollem Glück-Auf
Am 3. Juni 1896 schrieb mein Großvater an den Grubenvorstand der Zeche vereinigte Dahlhauser Tiefbau: «Euer Hochwohlgeboren bitte ich ganz ergebenst, falls, wie ich erfahren noch einige Steiger auf den Euer Hochwohlgeboren unterstehenden Zechen angestellt werden, mich gütigst zu berücksichtigen. Ich habe mir erlaubt, den Lebenslauf nebst Zeugnissen beizufügen. Mit hochachtungsvollem Glück-Auf!» Es folgt der Namenszug: August Gabriel.
Der unlinierte, zum Vorschreiben benutzte Briefbogen ist genau in der Mitte gefaltet, links stehen Absender und Anschrift, rechts Bewerbung und Lebenslauf. Von allen Zechen, auf denen der junge Mann gearbeitet hatte, konnte er Führungszeugnisse vorlegen. Zusammen mit dem Abkehrstempel galten sie als Nachweis einer ordnungsgemäßen Kündigung. Wer wegen Streikhetze, Aufreizung zum Klassenkampf, sozialdemokratischen Umtrieben und ähnlichen Delikten entlassen worden war, stand auf einer der berüchtigten schwarzen Listen, die von den Personalabteilungen der Zechen geführt und untereinander ausgetauscht wurden. Er fand kaum wieder Arbeit.
Die Stimmung im Revier um die Jahrhundertwende wird charakterisiert durch den Leserbrief eines Bergmanns an die Gelsenkirchener Volkszeitung aus dem Jahr 1889. Im Streb, schreibt er, drohe dem Kumpel das Hangende auf den Kopf zu fallen. Über Tage bekomme die Plempe (den Säbel) des Gendarmen zu spüren, wer nur den Mund aufmache, satt zu essen und menschenwürdige Unterkunft für sich und seine Familie verlange. – Hinter diesen Worten spürt man noch die Emotionen, die der erste große Bergarbeiterstreik im Mai 1889 ausgelöst hatte. Sprichwörtlich bekannt war das raue Arbeitsklima in der Grube, nicht umsonst trugen viele Steiger einen Revolver bei sich, wenn sie einfuhren. Trotzdem drängte es immer wieder junge Leute, den Steigerberuf zu ergreifen, auch meinen Großvater.
Mit vierzehn Jahren war er aus der Elementarschule entlassen worden und hatte als Tagesarbeiter auf «Maria Anna & Steinbank» in Höntrop angefangen. Marianne, wie die Zeche abgekürzt genannt wurde, war aus einem Erbstollen hervor gegangen und in englischen Besitz geraten. Schlagzeilen hatte ihr Bankrott Anfang der 1860er Jahre gemacht. Hart bedrängt von den Gläubigern war über Nacht die Direktion verschwunden. 1868 erwarb der Bochumer Verein die Zeche bei einer Zwangsversteigerung. Trotz aller Modernisierungsmaßnahmen hatte sie mit Einbrüchen und Wasser zu kämpfen und blieb unrentabel.
Während der ersten beiden Jahre lernte der Großvater den Übertagebetrieb gründlich kennen. Die Tatsache, dass er nicht gleich unter Tage eingesetzt wurde, verdankte er der preußischen Gesetzgebung, sie verbot die Arbeit Jugendlicher im Untertagebetrieb bis zum 16. Lebensjahr. Die jungen Hilfsarbeiter wurden bei der Gezähe- und Materialausgabe, der Wagenreinigung und auf der Hängebank beschäftigt. Am Leseband mussten sie zusammen mit älteren, nicht mehr voll einsatzfähigen Bergleuten als Kohleklauber arbeiten, also Steine aus der geförderten Kohle aussortieren. Die Arbeit am Band war stumpfsinnig, Abwechslung gab es nur, wenn sich junge Burschen fürchterlich wirkende Geschosse aus Zeitungspapier und Kohlenstaub an die Köpfe warfen. Die Kohle gelangte in die Separation, hier erfolgte die mechanische Sortierung nach Staub-, Fein-, Nusskohle usw. Das Separieren war Voraussetzung für die Kohlenwäsche, bei der mit Hilfe bewegten Wassers die leichte Kohle vom schweren Gestein getrennt wurde.
Nach zwei Jahren fuhr der Großvater auf Zeche Marianne als Bremser und Schlepper ein und war bei dieser Arbeit bis zum 1. Mai 1887 tätig. Bremser und Schlepper, unter Tage für den Transport der Kohle zuständig, mussten die Kohlenwagen schieben, ziehen und bremsen oder als Pferdejungen die Züge zusammen stellen und begleiten. Die folgenden acht Jahre war der Großvater auf den Schächten I, II und III der Zeche Centrum in Wattenscheid, ebenfalls als Bremser und Schlepper, danach als Lehrhauer und Hauer beschäftigt. In dieser Zeit erlernte er unter anderem das Abteufen und Ausmauern von Schächten, den Ausbau mit patentierten Spurlatten und das Vorrichten von Seilbahnen.
Während Schleppern und Pferdetreibern nur 50–60 % des Hauerlohns zustand, verdiente der Lehrhauer bereits 90 %. Es war das Bestreben der meisten Bergarbeiter, möglichst bald als Kohlenhauer zu arbeiten. Betriebsführer Krämer von Schacht I stellte meinem Großvater das Zeugnis eines fleißigen und braven Arbeiters aus, der sich Vorgesetzten gegenüber stets zuvorkommend und durchaus lobenswert verhalten habe. Unter der Nummer 93257 wurde er als Hauer 1. Klasse zu den Spitzenverdienern gezählt, deren Schichtlöhne über vier Mark lagen. Abgezogen wurden davon dreißig Pfennige für Knappschaftsgefälle, Steuern, Lampenöl und Seife. Der monatliche Nettoverdienst eines Hauers betrug damals hundert Mark.
1893 meldete sich der junge Mann, zusammen mit 584 Bewerbern, zur Aufnahmeprüfung bei der Bergschule in Bochum an. Der Besuch war kostenlos, er bot strebsamen, jungen Leuten die Gelegenheit, neben der Arbeit das Bergfach zu studieren. Ohne das gute Führungszeugnis des Betriebsführers Krämer hätte mein Großvater nicht zu den 16,7 % angenommener Bewerber gehört. Der Bergbau, patriarchalisch regiert, erwartete von seinem Steigernachwuchs nicht nur eisernen Fleiß und Pflichtbewusstsein, sondern auch Gehorsam der Zechenleitung gegenüber.
Der zweijährige Kursus an der Bergschule begann im Oktober, je zwanzig bis dreißig Schüler saßen in der Klasse. Mein Großvater gehörte zu der einen Hälfte der Schüler, die von 15:00 bis 18:45 Uhr, mit einer viertelstündigen Pause, Unterricht hatten.
Morgens gegen halb fünf Uhr stand er auf und musste kurz vor fünf am Schacht sein. Auf dem letzten, mit Menschen beladenen Förderkorb ging es in die Tiefe. Die eigentliche Schicht begann um sechs Uhr, die Seilfahrt wurde also nicht auf die Arbeitszeit angerechnet. Mittags fuhr der Großvater mit den Steigern wieder aus, wusch sich, zog sich um und eilte nach Hause. Von dort ging es nach dem Mittagessen zum Höntroper Bahnhof und mit der Eisenbahn nach Bochum. Abends gegen acht Uhr war er wieder zu Hause und saß noch lange über seinen Büchern und Heften.
Unterrichtet wurde in Mathematik, Mechanik, Maschinenlehre, Markscheidekunst, Physik, Chemie, Bergbaukunde, Grubenrechnungswesen und Konstruktionszeichnen. Direktor der Schule war Bergrat Otto Schultz, unter seiner Leitung hatte sich die Anstalt zur bedeutendsten Bergschule Deutschlands entwickelt. Zum Lehrerkollegium gehörten: Dr. Broockmann, die Ingenieure Gellhorn und Herbst, Markscheider Lenz, Schaper und Althoff. Wenig beliebt waren die Bergwerksassessoren, die vor allem in Bergbaukunde unterrichteten. Sie sahen in den jungen Leuten ihre zukünftigen Untergebenen und behandelten sie entsprechend. Es kam vor, dass besonders schneidige Assessoren ihre Schüler das Aufstehen üben ließen, wenn es ihnen beim Betreten der Klasse zu langsam vorgekommen war.
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