Ancrus selbst half ihnen nicht beim Graben. Dafür war er zu alt, und außerdem hatte er das Kommando. Er sagte den anderen, was zu tun sei, und dafür waren die Gorgens dankbar, denn das, was Ancrus ihnen versprach, war nicht weniger als eine Zukunft für ihr Volk.
Nach der großen Schlacht an der Barriere von Valheel vor ein paar Wochen, drohte dem Volk der Gorgens der Untergang, dessen war sich Ancrus absolut sicher. Tausende von seinesgleichen fielen auf die falschen Versprechen des Despoten Koros Cusuar herein und stürzten sich in einen Kampf, in dem es nichts zu gewinnen gab. Der Großteil derer, die ihm gefolgt waren, fand den Tod. Und viele von denen, die überlebt hatten, weil sie dem Inferno noch rechtzeitig entfliehen konnten, kehrten nicht mehr nach Gorgonia, ihrer Heimat, zurück. Teils aus Scham, teils aus Selbstaufgabe.
Die Geschichte wiederholt sich immerzu, dachte Ancrus betrübt.
Er hatte versucht, seine Artgenossen vor dem Tod zu bewahren. Er war einer der wenigen, der Koros durchschaut hatte. Aber die Verzweiflung der meisten anderen war einfach zu groß. Das Volk von Gorgonia hatte nie eine faire Chance erhalten, eine eigenständige und unabhängige Gesellschaft zu bilden, mit Stolz und Selbstbewusstsein. Immerzu wurde ihr Volk unterdrückt, missbraucht, bekriegt, ausgebeutet und vor allem anderen verachtet.
Oft hatte Ancrus darüber nachgedacht, was die Ursachen dafür waren. Sicher, die Gorgens waren kein Volk, das besonders intelligent war. Sie hatten nie bedeutende Erfindungen gemacht. Sie bevorzugten den Stillstand, aber nicht den Fortschritt. Sie waren keine Dichter oder Poeten, keine großen Architekten, sie waren ein einfaches Volk. Naiv ja, aber nicht dumm. Aber war Naivität der Grund für ihr Scheitern?
Wenn es nur Gorgens auf Thalantia geben würde, so dachte Ancrus manchmal, dann wäre ihre Vision einer zufriedenen Gesellschaft mit Gorgens, die ein erfülltes Leben führten, vermutlich wahr geworden. Denn stets waren es andere Völker, die aus Gier, Hass und Machtstreben das Volk der Gorgens für ihre niederen Zwecke missbrauchten. Eigenschaften, die den Gorgens im Wesentlichen fremd waren. Aus diesem Grunde nannte Ancrus auch alle Nicht-Gorgens auf Thalantia nur die Niederen.
Koros hatte die desolate Lage, in der sich die Gorgens befanden, ausgenutzt und versprach ihnen raschen Wohlstand und auch Macht. Seine verheißungsvollen Versprechen waren zu verlockend, um abgelehnt zu werden, obwohl die Gorgens es doch besser hätten wissen müssen. Sie hatten es einfach verlernt, mit Selbstvertrauen zu leben und eigene Entscheidungen zu treffen. Auch wenn niemand offen darüber redete, fühlten sich die Gorgens anderen gegenüber unterlegen. Viele von ihnen lebten in Armut, litten Hunger und verließen ihre Heimat Gorgonia. Nicht wenige wurden zu Dieben. So wie Feuerwind, der Antilius nach seiner Ankunft auf Truchten ausgeraubt hatte und später sein Leben an der Barriere von Valheel verlor. Dieser Gorgen war es auch, von dem Ancrus vor dessen Tod von der Existenz des Flüsternden Buches erfuhr. Das Buch, das Koros in seinem Palast stets aufbewahrte, und dort auch zurückgelassen hatte, als er in die Schlacht gezogen war. Kein anderer noch lebender Gorgen hätte gewusst, was es mit dem Flüsternden Buch auf sich hatte. Niemand wusste es - bis auf Ancrus.
Es hieß, dass Ancrus nicht nur der älteste noch lebende Gorgen sei, sondern auch, dass er der älteste Gorgen überhaupt sei, den es jemals gegeben hatte. Und vielleicht stimmte das sogar. Ancrus war in jeder Hinsicht etwas Besonderes. Er war größer als die meisten anderen Gorgens. Auch sein Kopf war schmaler und größer. Seine Augen waren leuchtend grün. Sein für Gorgens typisch pechschwarzer Körper war von dutzenden graugefärbten Narben übersät, die er sich in zahllosen Gefechten zugezogen hatte, bevor er zu der Einsicht gelangte, dass das Kämpfen keine Lösung für seine Probleme war. Sein rechter Flügel (alle Gorgens hatten Flügel wie bei Fledermäusen) war halb verkrüppelt, sodass er höchstens noch ein paar Meter weit damit fliegen konnte, und das auch nur unter größter Anstrengung.
Ancrus war gezeichnet.
»Seid ihr schon auf etwas gestoßen?«, fragte er seine Arbeiter.
»Noch nicht«, antwortete einer von ihnen. »Seid Ihr sicher, dass wir an der richtigen Stelle graben?«
Ancrus schaute hinüber zum Meer, denn an dessen Küste befanden sie sich.
Dann sah er hinter sich, nach Süden. In der Ferne erblickte er die Zinnen der Beobachtungstürme und den Wehrgang am oberen Teil der Ringmauer, welche den Palast des einstigen Herrschers Koros Cusuar umschloss.
In dem heute verlassenen Bau hatten Ancrus und sein Gefolge noch am gestrigen Tage nach dem Flüsternden Buch gesucht, das Koros dort zurückgelassen hatte. Aber das Buch war nicht mehr dort. Jemand anderes war ihnen zuvorgekommen. Ancrus war wieder einmal zu spät gekommen. Alles, was im Palast nicht niet- und nagelfest war, war bereits gestohlen worden. Die Nachricht, dass Koros nicht mehr am Leben war, hatte sich offensichtlich schnell herumgesprochen.
Ancrus sah wieder auf das Loch, das er in den Boden an der nördlichen Küste von Truchten graben ließ.
»Er ist hier. Der Höhleneingang ist hier. Die Spuren, denen wir gefolgt sind, haben uns hierher geführt«, sagte er. Er musste sich beherrschen, seine wahren Gefühle den anderen gegenüber nicht zu offenbaren, denn nichts fürchtete er mehr, als jenen Höhleneingang freizulegen.
Die Gorgens machten eine kurze Pause und hielten inne. Offenbar hatten sie bemerkt, dass Ancrus besorgt zu sein schien. Ein Beben in seiner sonst so festen und tiefen Stimme hatte sie misstrauisch gemacht. Ancrus fluchte innerlich. Er wollte ihnen keine Angst machen und doch hatte seine eigene ihn verraten.
»Was ist in dieser Höhle?«, fragte ein anderer im Namen seiner Kollegen.
Ancrus wurde wütend: »Das Buch ist dort unten. Das wisst ihr doch! Was glaubt ihr wohl, wonach wir hier suchen? Dummköpfe!«
»Ja, aber wie ist es dort hineingelangt? Erst sagtet Ihr, das Buch sei im Palast. Das war es aber nicht. Und jetzt sagt Ihr, es sei in einer Höhle«, bemerkte ein dritter Gorgen.
Ancrus wurde noch wütender. Er überlegte kurz, was er antworten sollte, denn er wollte keine Meuterei riskieren. Sollte er sie belügen? Hatten sie das verdient? Noch mehr Lügen?
Die sieben Gorgens regten sich keinen Millimeter und fixierten Ancrus mit ihren Blicken. Ohne eine plausible Antwort würden sie nicht weitergraben.
»Also gut«, gab Ancrus nach. »Ihr werdet es sowieso erfahren.«
Er ging ein paar Schritte mit gesenktem Kopf. Dann blieb er stehen, vermied es aber, den anderen ins Gesicht zu sehen. »Hier unter uns befindet sich nicht nur eine Höhle, sondern ein ganzes Höhlensystem, das sich über mehrere Quadratkilometer erstreckt.«
Den Gorgens schwante Übles.
»Es ist das Reich der Totengräber«, sagte Ancrus.
»Die Totengräber?«, entfuhr es einem Gorgen. »Dann sollten wir zusehen, dass wir hier schnell wegkommen! Die Totengräber sind Bestien! Ich will nicht gefressen werden! Ich werde nicht weitergraben.«
»Schweig!«, schrie Ancrus. »Seid doch nicht immer so furchtsam! Glaubt nicht jeden Unsinn, den man sich erzählt!«
Ancrus kannte die Geschichten, die über die Totengräber erzählt wurden. Es seien gepanzerte Wesen, die fast blind waren und angeblich von Hummertieren abstammten. Nur mit dem Unterschied, dass sie viel größer als jene Gattung waren, sprechen konnten und recht intelligent waren. Ihr Höhlensystem verlief entlang der Küste. Es gab mehrere unterirdische Zugänge zum Meer, aus dem sie sich vornehmlich ernährten.
Aber manchmal, so wurde es erzählt, wenn ihr Hunger übermächtig wurde, dann kamen sie des Nachts aus ihren Höhlen an die Oberfläche und holten sich ein Opfer und entführten es in ihr unterirdisches Reich, um es dort zu fressen. Wegen dieser Legende trugen sie ihren Namen.
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