Schlegel nennt seine Ästhetik auch eine Wissenschaft von der Natur. 104Wobei er unter „Natur“ das Bild der werdenden Gottheit versteht und das Ganze als Individuum denkt; im Gegenteil zur Auffassung der Naturwissenschaft, weil diese nach ihm die Natur als Mechanismus versteht. 105Die Natur lediglich nach Gesetzen zu erkennen, heißt nach Schlegel die Natur in eine Maschine verwandeln. 106
Die Aufgabe, die sich Schlegel stellt, ist die Anerkennung der Natur der Dinge, die schon bei Kant angedeutet wird, wenn er vom Ding „an sich“ spricht, das allerdings nach ihm positiv nicht erkennbar ist und trotz dieser unmöglichen Erkennbarkeit seine Bedeutung nicht verlieren soll.
Für Schlegel bedeutet diese Anerkennung, die Dinge in der Natur so zu sehen, dass sie „beseelt“ sind. Der Begriff der Seele steht im romantischen Denken zum Gegensatz einer Natur als gesetzlicher Zusammenhang; „Seele“ ist nach Schlegel das Prinzip allen Lebens. 107Seit der Antike ist Natur schon der Inbegriff des überhaupt Möglichen; in der Romantik ist es die göttliche Natur, die durch Gott geschaffene Natur. 108
Es gehört zu einer mythisch-religiösen Vorstellungswelt, wie sie das romantische Denken charakterisiert, eine mögliche gefühlte Verwandtschaft anzunehmen, die das Ganze zusammen hält. Postuliert wird ein wirklicher Wesenszusammenhang der Dinge. Vorausgesetzt wird der Anspruch mittels Poetisierung ein mythisches Elementarerlebnis wiedergewinnen zu können.
Zu erinnern ist auch an Goethes ähnlichen Begriff der „lebendigen Natur“, die dadurch charakterisiert ist, dass in ihr nichts ist, was nicht in Verbindung mit dem Ganzen steht. 109
Die ästhetische Aufwertung der Natur, einer Natur, die zum unendliche Schönen wird, von der man nach romantischer Vorstellung nur in Bildern reden kann, ist daher nicht etwa als eine Freikarte für den hemmungslosen Genuss des Sinnlichen zu verstehen.
Das Sinnliche soll vielmehr in der Anschauung ästhetisch veredelt werden, dient lediglich der Suche nach dem für das romantische Denken einzig authentischen Gefühl, der Sehnsucht nach dem Unendlichen.
Allerdings kommt es aus romantischer Sicht darauf an, das „höhere Gefühl“ richtig zu suchen, d.h. das Gefühl, dass sich in der Sehnsucht nach dem Unendlichen ausdrückt. 110
In einer Vorlesung von Schlegel findet sich ein Hinweis, warum diese Suche nach dem „echten Gefühl“ auch zu einem Irrweg werden kann. Es gibt danach auch einen falschen Zauber der Phantasie, dem man mit magischer Kraft verfallen kann, d.h. die Kraft des Unendlichen kann nach der romantischen Vorstellung auch falsch angewendet werden. 111
In diesem Sinne liegt eine falsche Anwendung dann vor, wenn die Triebe mit Hilfe der Phantasie zur Leidenschaft gesteigert werden.
Schlegel spricht in seiner Philosophie von einem Grundfehler, wenn man versuchen sollte, das Absolute, d.h. bei ihm das Streben nach einem Unendlichen, auf das irdisch Vergängliche anzuwenden, denn es kann durch keinen irdischen Gegenstand, und keinen sinnlichen Genuss oder äußeren Besitz jemals ausgefüllt und ganz befriedigt werden. 112Nach ihm wird die Leidenschaft, die danach strebt im Leben wirklich zu werden, zu einer Lüge und endet im Hass. 113
Das romantische Denken interessiert daher im Rahmen dieser Aufgabe nicht die sinnliche Wirklichkeit, vielmehr ist das Sinnliche lediglich als Gegenstand der ästhetischen Kontemplation von Interesse. Mit anderen Worten, es geht um eine ästhetische Distanz zum Sinnlichen, das als Mittel zur Quelle des „reinen“ Genusses wird.
Schlegel übernimmt in seinem Denken das platonische Erbe, die duale Konstruktion der Welt, d.h. das Bewusstsein soll von allen sinnlichen Täuschungen gereinigt werden, es soll von allen fesselnden Leidenschaften befreit werden. Wie bei Plato gibt es auch bei Schlegel zwei Welten, die Welt des Sinnlichen und eine transzendente Welt, die jenseits davon liegt. Man steigt in der Entwicklung des Bewusstsein von Stufe zu Stufe immer höher, ohne dass Schlegel allerdings wie schon Plato erklären kann, wie sich dieser Übergang - diesmal allerdings auf der Gefühlsebene - in eine höhere Wirklichkeit vollziehen soll. 114
Zu erinnern ist auch an Platos Höhlengleichnis, an die Befreiung aus der Welt der Erscheinungen ins Licht der Ideen. Wobei der Befreier bei Plato ein Philosoph ist. Allerdings gibt es bei Schlegel im Unterschied zu Plato nur eine angeborene Idee im Gemüt des Menschen: die Erinnerung an die ewige Liebe, wobei der christliche Gott als die Urquell dieser Liebe betrachtet wird. 115Gott ersetzt im romantischen Denken den griechischen Kosmos der Ideen.
Wie bei Plato gilt auch bei Schlegel der Rahmen des ontologischen Komparativs, d.h. der Aufstieg aus dem Reich des Sinnlichen, wobei sich allerdings die Inhalte geändert haben, d.h. entwickelt wird eine Ontologie der Zeit; das Sinnliche soll mittels der Ästhetik als das „wirklich“ Unendliche wahrgenommen werden.
Es ist diese ontologische Stufenleiter, die auch die besondere Bedeutung des Gefühls der Sehnsucht nach Schlegel ausdrückt. Das Gefühl der unendlichen Sehnsucht wird als ein Gefühl beschrieben, das mit einem „immer höher steigen“ verbunden ist, mit dieser Abwendung vom Sinnlichen als Endlichen, wohlgemerkt als Endlichen. 116
Das reine Gefühl der Sehnsucht ist nach Schlegel daher nichts anderes als der Wunsch nach einer höheren Wirklichkeit. 117Was schon für Plato gilt, trifft auch bei Schlegel zu. Bei beiden wird eine höhere Wirklichkeit als vorhanden suggeriert, die es nur zu entdecken gilt.
Der Aufstieg mit Hilfe der Poesie in eine „höhere Wirklichkeit“, den das romantische Denken fordert, findet in einem Elfenbeinturm des reinen Gefühls statt. Das Gefühl der Sehnsucht wird zur Ruhestätte, das um seiner selbst willen gesucht wird, denn es gibt für den Romantiker nichts Höheres. 118Ein Gefühl wird zur einzig erstrebenswerten Wirklichkeit, die Natur als Tempel zur Projektionsfläche.
Man kann auch sagen, um die Natur wird durch das romantische Denken ein Tempel errichtet; es soll das heilig gesprochen werden, was einmal im Denken eine wesentliche Bedeutung hatte. Für das romantische Denken ist es eine Selbstverständlichkeit, dass dieser Bezug auf ein Wesen der natürlichen Dinge legitim ist und immer auch war.
Betrachtet man das Denken der Romantik einmal auf dem Hintergrund des Antagonismus von Kunst und Natur, der die europäische Geistesgeschichte seit dem Mittelalter bestimmt und als einen Versuch, eine Antwort auf diesen Antagonismus zu finden, so scheint auf den ersten Blick, wenn man Kunst als Ästhetik versteht, eine Lösung auf der Ebene der Anschauung möglich.
Aber in der Romantik wird eine Versöhnung von Kunst und Natur lediglich auf der Ebene des ästhetischen Gefühls suggeriert, wird zu einer Sache der distanzierenden Betrachtung. Ästhetik wird zur Konstruktion einer erhabenen Traumwelt, zum Ersatz, neben einer unausweichlichen Wirklichkeit.
Auf den Gipfeln des „reinen“ Gefühls der Sehnsucht nach dem Unendlichen ist Ruh, so könnte man das romantische Versprechen beschreiben, wobei die Poesie zu einer Art Meisterschaft wird, um diesen Gipfel zu erreichen.
Aber der Antagonismus von Kunst und Natur gewinnt sofort an Schärfe, wenn man unter Kunst nicht nur die Ästhetik versteht, sondern die Technik' einbezieht.
Das Problem, dass sich seit dem Mittelalter und der Entwicklung von Technik und Wissenschaft in aller Tiefe auftut, ist der Antagonismus von Konstruktion und Organismus, Technik und Natur. Vor diesem Antagonismus betrachtet, erscheint das ästhetische Gefühls, dass das romantische Denken entwickeln möchte, wie ein ohnmächtiger Versuch einer erneuten Rechtfertigung der Natur.
Auch wenn dieser Versuch letztlich ein Ausdruck von Ohnmacht bleibt, so ändert das nichts an der Bedeutung des Problems, das ihm zugrunde liegt und in der Frage mündet, welchen Stellenwert die Natur selbst noch für den Menschen hat, obwohl sie u.U. lediglich nur noch als Material legitimiert erscheint?
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