Die Nähe dieses Gedankens zum Faust-Motiv von Goethe drängt sich wohl nicht zufällig auf. Man denke an die ersten Zeilen der Faust Tragödie, auch an den Ausdruck von Verdrossenheit.
Eine solche Aufgabe kann allerdings nach Schlegel nicht durch die Wissenschaft ausgeführt werden kann. In der Wissenschaft geht es nach der romantischen Vorstellung um die Mitteilung des Bestimmten, während es nach der romantischen Philosophie darauf ankommt, das Unbestimmte darzustellen. Es geht also bei der zentralen Aufgabe der romantischen Philosophie nicht um Mitteilung sondern um eine bestimmte Darstellung. 89
Mit anderen Worten: Die Ausführung der philosophischen Aufgabe wird nach Vorstellung der Romantik zur Aufgabe der Poesie. Der Umstand, dass das Unendliche nach der romantischen Vorstellung nur durch Sinnbilder angedeutet werden kann, liefert damit die philosophische Begründung der Poesie. 90
Schon bei Descartes ist das Unendliche eine transzendente Idee. Die Fragestellung in der dritten Meditation gilt der Suche nach einer Idee, von dem man gewiss sein kann, dass der Mensch nicht die Ursache dieser Idee sein kann. Wir sollen wenigstens einen Begriff besitzen, den wir unmöglich aus uns selbst jemals erzeugen könnten. Für Descartes ist es die Idee des Unendlichen; sie ermöglicht es Gott zu denken: „Es ist, sage ich, diese Idee des höchst vollkommenen, unendlichen Wesens im höchsten Sinne wahr.“ 91
Sowohl für Descartes als auch später im romantischen Denken gibt es so etwas wie eine „wahre“ Unendlichkeit, die den Menschen auszeichnet und zu dem nur er einen Zugang hat. Bei Descartes ist es die Idee des Unendlichen, die sich im Bewusstsein befinden soll, während das romantische Denken von einer Sehnsucht nach dem Unendlichen spricht, d.h. es ist ein Gefühl, ein ursprüngliches Begehren. Wohlgemerkt, es ist eine Annahme des romantischen Denkens, dass das Bewusstsein des Unendlichen nach Schlegel die Quelle aller Philosophie ist.
Von diesem Bewusstsein des Unendlichen weiß man allerdings nach Schlegel im Sinne von Wissen nichts, im Unterschied zu Descartes: es ist ein Gefühl, es ist das Gefühl des Erhabenen. Man hat es nach ihm zu erklären versucht, aber es geht nicht. Nach Schlegel ist es das Letzte und Ursprüngliche, das nicht erklärt werden kann. 92Es ist, wenn man so will, ein vollkommenes Gefühl und nach der platonischen Tradition des Denkens kann das Vollkommene nicht gemacht sein.
Das Gefühl des Erhabenen wird zum Ausdruck einer „wahren Unendlichkeit“. Es ist ein Gefühl der Teilhabe am Ganzen, einer vorhandenen höheren Verbindlichkeit der Natur.
Die Aussicht auf eine Teilhabe an einer möglichen „wahren Unendlichkeit“ findet sich schon bei Kant zum Schluss der „Kritischen Vernunft angedeutet, wenn er das Gefühl für das moralische Gesetz im Menschen mit dem Gefühl vergleicht, dass der Anblick des bestirnten Himmels im Menschen auslöst. Auch bei Kant wird das Gefühl des Erhabenen zum Ausdruck für die Teilhabe des Menschen an einer Transzendenz, wobei allerdings das Gefühl des Erhabenen lediglich als Grund für die besondere Auszeichnung dient, die der Persönlichkeit des Menschen zukommt, weil er das moralischen Gesetz besitzt. Dieser Besitz ist nach Kant eine Auszeichnung, die den Menschen von der Tierheit unterscheidet und die Möglichkeit eines unabhängigen Lebens von der Sinnenwelt offenbart. 93
Im Unterschied zur späteren Romantik wird bei Kant allerdings die Teilhabe an einer „wahren Unendlichkeit“ auf das moralische Gesetz im Menschen begrenzt.
Der Begriff einer „wahren Unendlichkeit“, der sich in der Romantik ausdrückt, ist zu unterscheiden von der Idee des Unendlichen, die die moderne Fortschrittsidee charakterisiert, die die Entwicklung vor allem der Naturwissenschaften seit ihren Anfängen bestimmt. Es ist die Idee des Unendlichen, die eine Metaphysik des Fortschritts von der traditionell platonisch-aristotelischen Metaphysik unterscheidet. Die Idee des Unendlichen ist also hier nicht eine Art Leitstern, der auf eine Transzendenz verweist, auf einen absoluten Bürgen, auf Gott.
Es ist die Wissenschaftsidee der Moderne, die die Natur in eine Unendlichkeit, in ein unerschöpfbares Feld theoretischer Zuwendung ohne Ende verwandelt.
James drückt aus pragmatischer Sicht den damit verbundenen Begriff einer unendlichen Erfahrung so aus: „Es gibt nirgends ein ’Heim’ als in der endlichen Erfahrung, aber die endliche Erfahrung als solche, die hat kein Heim." 94
Die endliche Erfahrung wird zu einem „Unendlichkeitswort“.
Nach Plessner ist der veränderte Erfahrungsbegriff in der Moderne allerdings auch der Hinweis auf einen Verlust: die moderne Welt ist nach ihm kein Kosmos mehr und daher eine Welt, die kein Heimweh mehr kennt, weil sie kein Zuhause mehr ist. 95Eine Aussage, die wohl zugleich auch dafür zeugt, wie wirksam die platonische Tradition des Denkens noch ist, aber auch wie die Vorstellung eines unendlichen Fortschritts des Wissens den Glücksansprüchen des Menschen widerstreitet, denn Menschen sind endlich.
Poetisch leben
Was heißt poetisch leben? Heißt poetisch leben etwa Genießen, so wie das Kierkegaard im Zusammenhang mit seiner Kritik des romantischen Denkens behauptet? 96
Ist es eine Intention des romantischen Denkens, dass das Fleisch den Geist verneint, wie es an anderer Stelle heißt? 97Und das ist eine Kritik, die davon ausgeht, dass die Romantik nicht nur alle Sittlichkeit im Sinne von Sitte und Gewohnheit aufheben möchte, sondern auch jene Sittlichkeit, die die Gültigkeit des Geistes bestimmt, nämlich insofern er sich durch die Herrschaft des Geistes über das Fleisch bestimmt. 98
Kierkegaard setzt bei seiner Argumentation die platonische Dualität, die Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Geist als gültigen Maßstab voraus. Das Sinnliche, das Veränderliche und Wandelbare war in diesem Sinne im Platonismus immer das Negative gegenüber einer höheren Welt, die als bleibend und unvergänglich verstanden wurde.
Es ist jedoch diese platonisch-negative Einschätzung des Sinnlichen, die das romantische Denken in Frage stellt. Angestrebt wird eine andere Bewertung des Sinnlichen, die, wenn man so will, im Unterschied zu einem späteren Versuch einer Umwertung durch Nietzsche, nicht danach strebt, den Bezug zur Religion vollständig aufzuheben.
Schlegel drückt es so aus: Durch die Poesie soll der Geist mit der Natur befreundet werden. 99
Den Sinnen soll also wieder getraut werden und das musste gegenüber jeder Philosophie, die dem platonischen Erbe folgte, als eine Provokation wirken; es schien so als würde die Welt des Denkens auf den Kopf gestellt, so etwa für Hegel. 100Wohlgemerkt, das romantische Denken stellt die platonische Orientierung des Denkens, die Zwei-Welten Lehre in Frage, d.h. die damit verbundene Bewertung des Sinnlichen.
Auch für Schlegel gilt wie für Plato, das der Geist über dem Körper steht; der Unterschied ist nach Schlegel jedoch, dass Plato das Bewusstsein nur als Verstand und Vernunft aufgefasst hat, während es für Schlegel daneben noch ein Begehrungsvermögen, ein ursprüngliches Sehnen gibt, nach ihm die Quelle allen Bewusstseins. 101
Der ästhetische Tempel
Nach Schlegel wird das Endliche mit Hilfe der Phantasie ins Unendliche hinaus getrieben. 102Das ist wohl, so ist zu vermuten, auch im Sinne einer ästhetischen Aufwertung des Endlichen, d.h. des Sinnlichen gemeint. Aufgewertet werden soll in der ästhetischen Einbildung das, was vorher im platonischen Denkgebäude gegenüber der Rationalität abgewertet wurde: das Sinnliche und Endliche. Das Endliche als Endliches ist nach diesem romantischen Verständnis in der Wirklichkeit gar nicht, sondern immer nur in Beziehung auf das Ganze, wobei das Ganze identisch ist mit der absolute Intelligenz, d.h. mit dem „Gedanken der Gottheit“. 103Das Endliche wird also in dieser romantischen Konstruktion nicht wie im Platonismus einem Jenseits entgegen gesetzt, das als ein Unveränderliches gilt.
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