Manchmal fragte ich mich, wie es auf den anderen Kontinenten aussah. War es dort genauso schlimm wie hier? Hatten mehr Menschen überlebt? Gab es vielleicht irgendwo auf der Welt einen Ort, wo die alte Ordnung bereits wiederhergestellt war? Manchmal klammerte ich mich fest an die irrsinnige Hoffnung, dass eines Tages Rettungsteams auftauchen würden, die uns mitnehmen und uns irgendwo weit weg einen Neuanfang ermöglichen würden.
Doch ich musste nur die Augen aufmachen und mich umschauen, um zurück in die Realität gerissen zu werden. In den vergangenen dreizehn Jahren war die vorhergesagte Eiszeit ausgeblieben und nach und nach hatte sich die Lage auf eine verdrehte Weise wieder normalisiert. Wetter und Natur begannen zaghaft, einen neuen Rhythmus zu finden. Die grünen Blätter von vor zwei Tagen oder der Sommer, der die letzten drei Jahre etwa zur gleichen Zeit geendet hatte – man musste die Anzeichen nur erkennen.
Schön und gut, doch die Realität von uns Menschen war weiterhin knochenhart. Manche hatten nach 2099 das Land verlassen, um ihr Glück in anderen Gegenden zu versuchen. Da uns bisher jedoch keine positiven Nachrichten aus dem Ausland erreicht hatten, hatte mein Vater beschlossen, vorerst hierzubleiben. Er sagte, er halte sich lieber an das Bekannte, doch ich war mir sicher, er hatte auch Angst, dass es woanders noch schlimmer sein könnte.
Dabei war das schwer vorstellbar. In Deutschland war die Zivilisation komplett zusammengebrochen und die Überlebenden versuchten seit 2099, als Plünderer, Jäger und Sammler durchzukommen. So war es bis heute, aber es war ein Kampf, bei dem der Sieger schon lange feststand.
„Samira ist nicht während deiner Geburt gestorben, sondern im Jahr der Katastrophen“, fuhr Mike fort.
„Aber …“, unterbrach ich ihn, doch er hob die Hand.
„Lass mich bitte erst erzählen. Dann kannst du mir immer noch den Kopf abreißen.“ Er seufzte tief. „Es war der schlimmste Tag in meinem Leben. Deine Mutter und ich, wir waren so glücklich über deine Geburt gewesen. Kurz darauf begann dann dieser ganze Irrsinn. Ein halbes Jahr hielten wir durch, zusammen mit Mia. Irgendwann muss es aufhören, sagten wir uns immer. Seit einiger Zeit hatten wir Unterschlupf in der Münchener U-Bahn gefunden, unsere Hoffnung war regelrecht greifbar. Dann kam jener schicksalshafte Tag. Ein besonders schlimmer Sturm tobte, aber solange wir zusammen waren, konnte uns nichts passieren. So fühlte es sich jedenfalls an. Aber das stimmte nicht. Durch den Wind stürzte ein ohnehin schon marodes Hochhaus ein, direkt über uns. Dem Aufprall und den Vibrationen hielten die Tunnel nicht stand. Die Decke begann einzustürzen und Chaos brach los. All die Menschen, es waren viele, die in der U-Bahn Schutz gesucht hatten, stürmten zum einzigen Ausgang. Unser Lager war von den Treppen nicht besonders weit entfernt, darauf hatten wir geachtet. Ich nahm dich auf den Arm und wir rannten los. Ich wollte nur eins: Dich in Sicherheit bringen. Irgendwie schafften wir es, kamen oben an. Wie durch ein Wunder lagen auf dem Eingang keine Trümmer des Hochhauses. Der Höhepunkt des Sturmes war vorbei, also flüchtete ich in einen nahen Hauseingang. Ich drehte mich um … Mia war direkt hinter mir, aber Samira hatte es nicht geschafft. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib und sobald es ging, suchten wir sie. Aber wir fanden sie nicht, nicht einmal ihre Leiche.“
Ich schluckte schwer und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Jahrelang hatte ich mich mit dem Zustand abgefunden, dass meine Mutter mich nie in ihre Arme schließen konnte. Und jetzt das … Warum hatte mein Vater das nur getan? Ich sah zu ihm hoch.
Sein Blick war durchsichtig, seine Augen mit Tränen gefüllt. „Ich sehe alles noch so real vor mir … ich dachte, ich werde damit fertig, aber hier unten kommt alles wieder hoch …“, flüsterte er. „Sie hat es nicht geschafft. Sie kann es unmöglich noch rausgeschafft haben. Mit vielen anderen wurde sie für immer unter der Erde begraben.“ Noch nie zuvor hatte ich ihn so die Beherrschung verlieren sehen. Dann, mit einem Mal, strafften sich seine Schultern wieder, als wäre ihm eingefallen, dass ich auch noch da war.
In meinem Körper herrschte vollkommene Leere, ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. „Warum?“ Mehr konnte ich nicht herausbringen.
„Es tut mir so leid, dass ich dich von Anfang an belogen habe, Jady. Es war nicht richtig. Aber das Schlimmste ist die Hoffnung. Bis heute kann ich mir nicht erklären, warum sie plötzlich einfach weg war. Höchstwahrscheinlich ist sie in der panischen Menschenmasse gestürzt und kam nicht mehr hoch. Jeden Tag und jede Nacht denke ich, gleich taucht sie auf und alles ist wie früher. Obwohl es unmöglich ist. Sie ist tot und ich versuche seit vierzehn Jahren, das zu akzeptieren. Verstehst du, dass ich dir diesen Kampf ersparen wollte?“
Mein Vater hat mich verraten. Das war der einzige Satz, der sich in meinem Kopf befand, aber irgendwann fand ich meine Stimme wieder. „Ich weiß nicht … gib mir … gib mir Zeit.“ Dann wandelte sich die Luft in mir in Wut um. Vielleicht war das nicht gerechtfertigt, aber ich schrie ihm voller Verachtung alles ins Gesicht: „Ich habe damit gelebt, meine eigene Mutter ermordet zu haben! Verstehst du das nicht? Du warst alles, was ich hatte und jetzt erzählst du mir, dass du mich mein ganzes Leben lang angelogen hast? Du … Du …“ Ich brach in Tränen aus.
Mein Vater sagte nichts, nahm mich einfach in den Arm. Es war zu viel auf einmal gewesen. Gerade waren wir knapp dem Orkan-Tod entronnen und wussten nicht, was uns in diesem Winter noch alles erwarten würde. Jetzt saßen wir auf der Bahnsteigkante einer U-Bahn-Station und mein Vater erzählte mir, meine Mutter sei durch einen U-Bahn-Einsturz gestorben. Es dauerte lange, bis ich mich beruhigt hatte.
„Ich habe etwas für dich“, fuhr Mike fort und ignorierte, dass ich in der Vergangenheit über ihn gesprochen hatte. „Diese Kette hat Samira immer getragen, später solltest du sie bekommen. Nach ihrem Tod habe ich sie in einem Rucksack gefunden. Möchtest du sie haben?“
Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und er gab sie mir. An einem geflochtenen Lederband war ein kleines Amulett befestigt. In den grünlichen Stein war etwas eingeritzt, dass ich nicht entziffern konnte. Das Einzige, was von meiner Mutter noch übrig war, gehörte nun mir. Ich schloss die Hand um das Schmuckstück. „Danke“, flüsterte ich.
„Er ist aus Jade. Dein Namensgeber“, fügte mein Vater hinzu. „Ich weiß. Du bist wütend auf mich, aber vielleicht wirst du mich irgendwann verstehen können.“
Er wollte aufstehen, aber ich hielt ihn zurück. „Erzähl mir von ihr“, bat ich.
Mike schloss die Augen. „Sie hatte durchdringende, grüne Augen. Genau wie du. Wenn sie lachte, spielten kleine Fältchen um ihre Mundwinkel. Prächtiges, schwarzes Haar floss ihr über den Rücken. Samira war dünn und sportlich, außerdem hatte sie geschickte Finger. Wir haben uns sehr geliebt, aber das Wichtigste für sie warst du. Sie sprühte vor Lebensmut, trotz der schrecklichen Ereignisse. Das hat auf mich abgefärbt … Unsere ehemalige Nachbarschaft hat sie immer besonders für ihre offene und hilfsbereite Persönlichkeit geschätzt. In der Hinsicht hatte sie viel mit Mia gemeinsam, auch wenn die beiden natürlich nicht verwandt waren. Trotzdem konnte sie sehr geheimnisvoll sein. Ich glaube, ich habe nie alles über sie gewusst, aber genau das habe ich an ihr geliebt … Ich vermisse sie sehr, Jady. Genau wie du …“
Er legte den Leuchtstab neben mich und ging einfach durch die Dunkelheit. Aber wenn das Licht neben mir nicht mehr ausreichte, würde er das Lager schon sehen können. Maja tauchte neben mir auf, genau zum richtigen Zeitpunkt. Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Fell, aber es kamen keine Tränen mehr. So sehr mich dieses Gespräch auch geschockt hatte, ich war froh, dass mein Vater mir die Wahrheit nicht länger verschwiegen hatte. Mein Gott, ich war beinahe sechzehn. Da hat man ein Recht auf solche Infos. Mal davon abgesehen, dass wir morgen schon tot sein konnten – dann hätte mein Vater seine Chance verpasst. Was hätte ich an seiner Stelle wohl getan? Langsam bereute ich, ihn so angeschrien zu haben. Nachher musste ich mich bei ihm entschuldigen, aber er sollte ruhig noch ein bisschen schmoren und ein schlechtes Gewissen haben.
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