„Die Auraträger wären längst hier, wenn sie eine Gefahr spüren würden“, brummte Osenas. Er begann nervös zu werden. Vielleicht hatte sich die Hüterin doch getäuscht, denn nichts deutete auf eine Gefahr hin. „Eolanee, was machst du da? Bist du von Sinnen?“
Eolanee ließ ihre Fangwurzel wachsen und näherte sich rasend schnell dem Boden. Leichtfüßig sprang sie auf den weichen Untergrund und rannte auf den Platz zu, wo sich Gendas und seine Gruppe befanden. Diese hatte die Arbeit unterbrochen und die meisten Männer ergriffen bereits Wurzeln und glitten in die Sicherheit der Kegelbäume hinauf. Aber Gendas selbst war gestürzt und zwei andere halfen ihm gerade auf die Beine. Eolanee spürte eine dunkle Bedrohung, die sich diesen Männern rasend schnell näherte und begriff sofort, dass sie in größter Gefahr waren. Sie wusste nicht, was dort im Dunkel lauerte, aber sie spürte, dass es sehr schnell näher kam.
Dann sah sie es.
Eine lang gestreckte Gestalt, die einem Schemen gleich über die Lichtung huschte. Das namenlose Grauen gewann Konturen. Eolanee sah eine Kreatur von der halben Größe eines Rindes, mit gestreiftem Fell und sechs langen Gliedmaßen, die sich rasend schnell bewegten. Das Wesen richtete sich halb auf und bewegte sich auf den hinteren Beinen, reckte die vorderen wie Arme aus, um ihre Beute zu ergreifen. Ein langer Schweif peitschte nervös und in dem gebleckten Gebiss schimmerte ein Wall tödlicher Zähne.
Der Anblick dieser Kreatur ließ Eolanee erzittern.
Ein Schattenwolf.
Für einen Augenblick drängten sich Bilder in ihr Bewusstsein. Bilder ihrer Eltern und des schrecklichen Tages, an dem sie diese für immer verloren hatte. Bergos hatte ihr einmal von diesen Schattenwölfen erzählt und dass es hieß, diese Wesen lebten im großen Gebirge. Angeblich durchstreiften sie die Berge und kämen nur selten in die tiefen Täler hinab. Kein Enoderi habe sie jemals zu Gesicht bekommen, doch die Mentever im fernen Handelsposten hatten schaurige Geschichten über diese Tiere erzählt. Bergos hatte diesen Berichten keinen großen Glauben geschenkt, denn die Händler der Mentever waren dafür bekannt, dass sie es mit der Wahrheit nicht sehr genau nahmen und gerne durch maßlose Übertreibungen beeindruckten.
Doch nun stand einer dieser Schattenwölfe vor Eolanee.
Der Anblick von Gendas und den beiden anderen Männern ließ ihre eigene Furcht in den Hintergrund treten.
Eolanee beugte den Oberkörper vor, wie sie dies bei den Übungen von Bergos gesehen hatte und streckte ihre Arme der Kreatur entgegen. Sie empfand Angst vor dem fremden Wesen, aber Bergos hatte sie gelehrt, dieses Gefühl zu nutzen. Sie konzentrierte sich und sah, wie die Kreatur mitten im Lauf stockte und den Schädel wandte. Eolanee sah rötlich schimmernde Augen, die sie bösartig anfunkelten, als das sechsbeinige Wesen die Richtung änderte und auf sie zuschnellte.
„Zurück, Hüterin, zurück“, schrie hinter ihr der entsetzte Osenas. Die Fangwurzel, in welcher der Älteste saß, schien unruhig zu zucken, da sie nicht deuten konnte, ob der Enoderi nach oben oder nach unten wollte.
Gendas und seine Begleiter hatten das Wesen nun erblickt und schienen wie gelähmt. Sie waren zu weit vom nächsten Kegelbaum entfernt, um den Schutz seiner Fangwurzeln zu erreichen. Zwar spürten die Bäume die Not der Menschen und einige Wurzeln tasteten unruhig umher, aber sie fanden keinen Feind, den sie packen konnten.
Je näher das Wesen Eolanee kam, desto größer wurde deren Angst. Angst, die sie benutzte, um sie gegen das Wesen einzusetzen. Sie tat es instinktiv. Zwar hatte Bergos ihr vieles von seinem Wissen vermittelt, aber er hatte in all den Jahren keinen Beweis dafür gefunden, dass Eolanee die Gabe der Aura in sich trug. Er konnte jedoch keine Fähigkeit schulen, die nicht vorhanden oder zu tief verborgen war.
Nun, in diesen Augenblicken, brach sie aus Eolanee hervor.
Vielleicht hatte in den vergangenen Jahren die Todesfurcht gefehlt, die sie beim Überfall der Berengar empfunden hatte, denn nun entwickelte sich die Kraft der Aura mit unerwarteter Macht.
Sie konnte die Schwingungen der Kreatur fühlen. Bösartige Schwingungen, die von Hass und Tod erfüllt waren. Eolanee hatte nie zuvor solch grauenhafte Impulse wahrgenommen und sie erzeugten in ihr blankes Entsetzen. Obwohl alle ihre Instinkte danach schrien, sich in die Sicherheit eines Kegelbaums zu flüchten, half Bergos Schulung ihr, ihrer Furcht zu widerstehen. Im Gegenteil, sie sammelte ihre Angst, verstärkte sie zu einem machtvollen Gedanken. Ihre Arme deuteten auf die angreifende Kreatur und halfen ihr so, sich auf das Ziel zu konzentrieren.
Nur wenige Meter fehlten und die Kreatur hätte Eolanee packen können, doch plötzlich stieß sie ein grelles Jaulen aus und schwenkte ab. Mit langen Sätzen hetzte sie in die Dunkelheit zwischen den Bäumen. Dabei geriet sie in die Reichweite eines Kegelbaums. Eine lange Fangwurzel ergriff das Wesen mitten im Sprung, umschlang es und begann zu schrumpfen. Erneut jaulte das Tier, während es in die Höhe gerissen wurde und sich die Wurzel unbarmherzig um seinen Leib schloss, bis die Knochen berstend nachgaben.
Eolanee sackte auf die Knie und atmete schwer. „In die Bäume“, keuchte sie und gab Gendas und seinen Begleitern einen Wink. „Es ist noch nicht vorbei.“
Eigentlich wusste die junge Baumhüterin überhaupt nicht, was da genau geschah und vor allem, wie es geschah. Was sie tat, machte sie unbewusst und es war vollkommen anders, als wenn sie ihre Fähigkeit als Baumhüterin einsetzte.
Als Baumhüterin konzentrierte sie sich auf den Baum und spürte seine Ausstrahlung. Sie fühlte jede seiner Fasern und die Bewegungen in ihnen, als sei der Baum ein Bestandteil ihres eigenen Körpers. Mühelos fand sie dabei die Bereiche, in denen die Lebenssäfte des Baumes nicht richtig flossen oder die Strukturen eine Veränderung zeigten, die auf eine Erkrankung oder den Befall durch einen Schädling hinwiesen. Ja, sie empfand sogar ein unangenehmes Ziehen, dass ihr den Fressgang eines Käfers oder sogar das Insekt selbst anzeigte. Es war wie eine Handlung, die sie vollzog. Als gebe sie ihrem Körper den Befehl, den Arm auszustrecken.
Das, was nun mit ihr geschah, war vollkommen anders.
Während sie als Hüterin die Impulse des Baums passiv in sich aufnahm, spürte Eolanee, wie sie nun ihrerseits Impulse aussandte. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, ob es bewusste Gedanken oder unterbewusste Instinkte waren, die sie nutzte. Aber sie wusste, dass sie Gefühle in jenen bösartigen Kreaturen hervorrief, die dort draußen durch die Nacht schlichen.
Irgendwo ertönte ein lang gezogenes Heulen. Einer der Kegelbäume hatte eine weitere der Kreaturen ergriffen, tötete sie und begann sie in Nährstoffe umzuwandeln. Aber es waren noch viel mehr in der Nacht unterwegs. Eolanee fühlte ihre Boshaftigkeit und Blutgier. Diese Wesen schlichen um den Ring der Kegelbäume herum. Sie suchten die Lücken, die es ihnen ermöglichten, außerhalb der Reichweite der Fangwurzeln auf den Platz vorzustoßen. Die sechsbeinigen Räuber mussten extrem feine Sinne haben, denn sie ignorierten die Menschen auf den Rundgängen der Häuser und versuchten Gendas, seine Begleiter und Eolanee zu erreichen.
Die Bewohner Ayans waren aus ihren Häusern getreten, denn sie begriffen, dass sie innerhalb der Reichweite der Fangwurzeln vor den Angreifern sicher waren. Mehrere von ihnen riefen nach den Auraträgern, von denen nichts zu sehen oder zu hören war. Waren die Männer den Bestien zum Opfer gefallen? Waren sie zu weit entfernt, um die bedrohliche Lage zu erkennen?
Erneut gelangte eine Kreatur zwischen den Kegelbäumen hindurch. Sie blieb am Rand des Lichtscheins stehen, der den Versammlungsplatz erhellte. Der lange Schädel mit dem aufgerissenen Maul bewegte sich unruhig hin und her. Die rötlichen Augen schienen Eolanee zu fixieren. Das Tier lauerte auf eine Möglichkeit, die junge Frau zu töten, doch es zögerte. Seine Unruhe war spürbar.
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