Ich wurde wieder wach, als meine Eltern kamen. Meine Mutter riss mich hoch und nahm mir den dicken Verband ab, den ich um den Kopf hatte. Dann ließ sie von mir ab. Ich stand da in meinem Kinderbett und sah nur noch die beiden Rücken meiner Eltern. Sie beugten sich über das Bett meines Bruders. Ich sah, wie mein Vater brutal den Jungen schlug. Meine Mutter tat nichts, hat ihn nicht beschützt. Mich jedenfalls hatten sie total vergessen.
Die Frage in der Psychotherapie, was ich mir denn gewünscht hätte, kann ich lange nicht beantworten. Meine erste Reaktion ist, dass ich mich auf dem Arm der fremden Leute sehr geborgen gefühlt habe. Es ist eine Umschreibung meiner Gefühle, weil ich nicht aussprechen kann, was mir wirklich gefehlt hat. Als ich kurze Zeit später in einem Buch lese, dass man seine Gefühle richtig aussprechen soll, kommt es in mir hoch. Ich hätte in der Therapiestunde nur so herausschreien mögen: „Nehmt mich auf den Arm, haltet mich, haltet meinen Kopf zusammen mit seinen Schmerzen und all seiner Angst. Lasst mich doch nicht so verdammt allein! Ich habe doch nichts Böses getan."
Während der Zeit der Aufarbeitung dieses Traumas versuche ich, mit allen mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, meinen Schmerz zu lindern. Ich greife manchmal zu einem Stift und Zettel. Eigentlich kann ich nicht malen, und doch entstehen unter anderem diese Bilder: Ich hätte es so gern gehabt, dass man mein Gesicht mit beiden Händen hält. Daraus entsteht der verbundene Kopf, gehalten von zwei Händen; der dann ganz unbeabsichtigt der Blume ähnlich sieht, die ich gepflückt hatte und die vor dem Ofen lag. Und ich habe eine unendliche Sehnsucht, gehalten, getragen zu werden.

Als Zuwendung erhielt ich später die Erlaubnis, in dem Liegestuhl, der nur meinem Vater vorbehalten war, zu liegen, wenn meine Mutter im Garten arbeitete. Und ich bekam von meinem Vater eine kleine Tüte mit Bonbons mit der Auflage, dass ich meinem Bruder nichts abgeben durfte. Das war wie eine Strafe für mich.
Ich habe großes Glück, dass ich so verschiedene Möglichkeiten habe, meine Gefühle auszudrücken. Die Gespräche, das in Worte fassen und einfach sagen können, was ich selbst nicht glauben kann, sind eine große Befreiung für mich. Am meisten hilft mir aber das Schreiben, doch auch das Spielen am Keyboard, obwohl ich absolute Anfängerin bin, hält mich im hier und jetzt. Aber am wichtigsten ist mein Mann, der sich so sehr wünscht, dass ich gesund werde, und alles mit mir durchsteht. Ich habe diese Hilfen auch bitter nötig, denn die Therapiegespräche bringen immer neue traurige Erlebnisse zu Tage. Es ist kaum zu ertragen, aber ich muss es aushalten, um eines Tages den Grund für meine Ängste zu finden. Ich will so gern gesund werden.
Weihnachten – oder das traurige kleine Mädchen
Weihnachten mit unseren Kindern war immer etwas Besonderes für mich. Ich versuchte immer es so zu machen, wie ich es gern gehabt hätte. Schon die Vorweihnachtszeit war so wichtig und mit viel Spannung angefüllt durch Basteleien und kleine Überraschungen. Unsere Kinder freuten sich auf Weihnachten, und ich freute mich mit Ihnen. Ich wusste zu der Zeit nur, dass Weihnachten bei uns nie schön war, ich konnte mich aber nicht erinnern.
Als ich in der Vorweihnachtszeit 1995 nun so eine entsetzliche Leere und überhaupt keine Freude empfinde, kann ich es erst nicht einordnen. Als dann meine Therapeutin sagt, ich sollte das Fest doch aus der Sicht eines Kindes sehen, geht es mir noch schlechter. Ich sagte nur: Das Kind ist zu traurig. Damit kann sie im Moment nichts anfangen und ich eigentlich auch nicht. In den nächsten Tagen kommt mir dann immer deutlicher ein Weihnachtsfest aus der Kindheit ins Bewusstsein. Ich taste mich langsam an alles heran.
Ich war etwa 5 Jahre alt und es war Weihnachten. Bei uns zu Hause hatte das Fest keine religiöse Bedeutung, absolut keine. Es war aber ein besonderer Tag, Spannung und Aufregung überall. Wir durften nicht in die Stube. Wir warteten, aber das Warten wurde lang. Wir warteten nicht nur auf die Bescherung, sondern wir warteten darauf, dass mein Vater nach Hause kam. Es war kein freudig gespanntes Warten, sondern es war ein trauriges Warten – ich erlebte es noch öfter in den nächsten Jahren. Immer wieder ging ich zum Fenster. Er kam nicht. In den anderen Häusern konnte ich an den Lichtern in den Fenstern erkennen, dass dort schon Weihnachten war. Würde es bei uns vielleicht gar nicht Weihnachten werden. Ich wünschte es mir aber doch so sehr. Ich hoffte, dass mein Vater bald kommen würde.
Als es meiner Mutter zu viel wurde, machte sie mit uns Bescherung. Aber was für ein Gefühl in mir die lange Wartezeit und die Bescherung ohne den Vater auslöste, hatte wohl nicht mehr so richtig etwas mit Freude zu tun. Es war wohl mehr Unsicherheit. Doch nach dem Gedichtaufsagen durften wir an die Geschenke. Ich bekam eine Puppe, die meine Oma genäht hatte. Die hatte ein Kleid und einen Hut aus demselben Stoff. Ich hatte eine Puppe und fand sie schön – sie war natürlich nicht mit heutigen Puppen zu vergleichen, denn auch der Kopf und das Gesicht waren genäht bzw. gestickt. Aber ich hatte nun endlich eine Puppe und fing an zu spielen und vergaß alles was vorher war.
Dann kam mein Vater nach Hause. Er war böse, weil wir ohne ihn angefangen hatten. Wir mussten augenblicklich aus der Stube. Meine Mutter musste alles wieder herrichten. Wir mussten wieder warten! Würde die Puppe noch da sein? Dann durften wir wieder in die Stube, mussten wieder unsere Gedichte aufsagen und durften unsere Geschenke ansehen. Dann mussten wir uns zu unserem Vater auf das Sofa setzen und es wurden Weihnachtslieder gesungen. Diese Lieder bedeuteten mir nichts. Ich musste dicht bei meinem Vater sitzen, dessen Geruch nach Alkohol und Rauch ich nicht mochte, und dessen Stimme so mächtig klang, obwohl er überhaupt nicht musikalisch war. Ich fürchtete mich vor ihm. Ich hätte auch viel lieber gespielt, ich durfte die Puppe jetzt nicht einmal bei mir haben. Als wir dann endlich spielen durften, nahm er die Puppe in die Hand, besah sie sich und sagte, dass sie hässlich sei und nur der Name „Vroni“ zu ihr passen würde. Ich sagte ihm, dass ich diesen Namen nicht mochte. Wie er diesen Namen aussprach. Ich war sehr traurig, denn er hänselte mich immer wieder, indem er diesen Namen oft sagte. Aber ich wusste schon, dass ich ihm jetzt nicht mehr widersprechen durfte, also ließ ich es über mich ergehen. Nur ich hätte die Puppe so gern liebgehabt, wusste jetzt aber nicht mehr, ob nicht mein Vater vielleicht Recht hatte.
Die Puppe blieb für die nächsten Jahre meine einzige Puppe, aber sie bekam nie einen Namen.
Das sehnsüchtige Warten und - dann ein ganz grauer Heilig Abend tauchen aus der Verbannung auf. Wieder nutze ich meine Möglichkeiten, um die Gefühle aus mir heraus zu lassen. Mein Körper und meine Seele sind zu klein, um dieses Ausmaß der Empfindung weiterhin verborgen zu halten.
Erinnerungen an lieblose Begebenheiten –
und ich habe nichts gemerkt - erst jetzt.
Die Schulspeisung
In der ersten Klasse gab es Schulspeisung für die Kleinen. Die Schokoladensuppe war köstlich und erst die Brühe. Ich hatte ein altes Kochgeschirr, in dem ich dann immer einen Teil mit nach Hause nahm für meine Brüder, die so etwas nicht bekamen. Ich freute mich immer, wenn ich ihnen etwas mitbringen konnte.
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