Imprint
Plazenta, -18°
Karlotta Jung
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Copyright: © 2013 Karlotta Jung
ISBN 978-3-8442-4605-6
Er ist grün. Ein altes, verbeultes Ungetüm von der Größe eines Einfamilienhauses. Sein Lack ist schäbig und an vielen Stellen abgeplatzt, von unzähligen braunschwarzen Rostflecken durchsetzt. Er ist laut, so ohrenbetäubend laut brüllt und tobt er mit wütender Kraft vor sich hin, dass einem der Atem stockt. Und er walzt alles nieder, was sich ihm in den Weg stellt. Mit seinen riesigen, meterhohen Rädern hinterlässt er tiefe Furchen, kratertiefe Spuren auf jedem Untergrund. Er ist rücksichtslos, wahllos, ziellos in seiner Zerstörungswut. Und ich weiß nicht, warum er es ausgerechnet auf mich abgesehen hat.
Jeden Morgen erwache ich mit stets dem gleichen Gefühl: Ich gehöre mir nicht mehr. Ich gehöre dem Traktor, der jede Nacht zu mir kommt, von dem ich jede verdammte Nacht träume. Ich liege auf der bloßen Erde, einem armseligen, vertrockneten Stück Acker irgendwo am Ende der Welt, und spüre, wie mich seine schweren Räder immer tiefer hinab drücken. Meine Knochen zerbersten, mein Kopf wird zermalmt, meine Haut flach gewalzt wie ein Stück Papier. Ich werde zu Lehm, löse mich auf. Ich versuche zu schreien, doch mein Mund ist voller Steine. Vielleicht sind es auch meine Zähne. Ich spüre nur Schmerzen. Brennende, schneidende, bohrende Schmerzen, die sich in meinem Körper ausbreiten wie ein Feuersturm. Und die nach dem Aufwachen immer noch da sind, in jedem Knochen, in jeder Zelle, jeden verfluchten Morgen.
Jan schläft schon seit mehreren Monaten nicht mehr neben mir. Ich ertrage es nicht, ihn morgens aufwachen zu sehen, ausgeschlafen und voller Energie für den bevorstehenden Tag. Ich brauche eine halbe Stunde, um nacheinander beide Augen zu öffnen und an meinem Körper Stellen zu orten, die nicht schmerzen. Davon gibt es nicht viele. Ich betrachte die Tapete an der Wand und versuche, in ihrem Muster einen Sinn zu erkennen, eine Erklärung für das, was mit mir passiert. Dann schäle ich mich langsam unter meiner Decke hervor und krieche ins Bad. Schaue in mein fahles Gesicht mit den zerstörten Augen. Lasse heißes Wasser über meine Haut laufen, stundenlang. Suche die Abdrücke des Reifenprofils auf meinen Armen, Beinen, Brüsten. Doch da sind keine. Nur die Kissen und Decken haben mir tiefe Furchen ins Gesicht gegraben, die sehr langsam verblassen.
Jan frühstückt bereits, wenn ich danach in die Küche geschlichen komme. Vor ihm stehen ein Teller mit den Resten seines Wurstbrotes und eine Tasse Kaffee mit zwei gestrichenen Teelöffeln Zucker und einem kleinen Schuss Milch. Er ist ein Gewohnheitsmensch, steht jeden Morgen um dieselbe Uhrzeit auf, auch wenn er keinen Termin hat, zieht sich dann seine Hose an und frische Socken, schlurft in die Küche und setzt den Teekessel auf. In der Zeit, die das Wasser zum Kochen braucht, schmiert er sich sein Brot und setzt sich an den Tisch. Wenn er das Brot zur Hälfte gegessen hat, bereitet er sich seinen Kaffee zu. Trinkt ihn dann in kleinen Schlucken, bei denen er die Mundwinkel leicht hochzieht, weil die heiße Flüssigkeit seinen empfindlichen Zähnen schmerzt.
Früher habe ich es geliebt, ihm bei diesen morgendlichen Verrichtungen zuzusehen, ihm ist auch heute noch anzumerken, wie intensiv ihn seine Eltern zu Zuverlässigkeit und Verantwortungsgefühl erzogen haben, und auch wenn er ihre Lebensweise verabscheut, ihr Reihenhaus, das samstägliche Rasenmähen, der immer gleiche Ferienort, ist sie ihm eingeprägt, wie eine tief in die Haut implantierte Tätowierung. Ich mochte seine Mischung aus Schrulligkeit und Verlässlichkeit von Anfang an, sie amüsierte mich zwar und ließ mich immer neue zärtliche Sticheleien erfinden, aber flößte mir gleichzeitig grenzenlose Sicherheit ein. Heute frage ich mich, ob seine Erziehung auch erklären kann, dass er immer noch hier in unserer Küche sitzt, warum er nicht schon längst verschwunden ist. Schließlich kauert ihm gegenüber ein stummer Haufen alter Knochen, der sich nur in die Küche geschleppt hat, um einen letzten Rest von Normalität aufrecht zu erhalten.
Ich sehe Jan an, dass er mich nicht versteht. Nicht meine Müdigkeit, nicht meine Erschöpfung, nicht meine Schmerzen. Nicht die Leere, die Dumpfheit in mir. Und dann wieder die unendliche Genervtheit über eine Winzigkeit. Seine dunklen, forschenden Augen betrachten mich mit äußerster Vorsicht über den Küchentisch hinweg, als sei ich ein totes, zerquetschtes Insekt unter dem Mikroskop, sie versuchen zu orten, welche Stimmung bei mir gerade vorherrschend ist. Dabei ist es jeden Morgen die gleiche, nur manchmal habe ich mich ein bisschen besser unter Kontrolle. Ich spreche wenig, nur das Allernötigste, und den Rest der Zeit versuche ich, meine Knochen in die anatomisch vorgesehene Position zu bringen. Oder ich starre vor mich auf die Tischplatte, um nicht Jans verlegenes und aufmunternd gemeintes Lächeln sehen zu müssen. Das ich nicht ertragen kann, denn es sorgt dafür, dass meine innere Lähmung noch größer wird, weil ich diesem Lächeln nichts entgegen zu setzen habe. Es höhlt mich von innen aus, dieses Lächeln.
Jan nimmt seine Tasche und drückt mir einen zaghaften Kuss auf die Wange. Dann geht er und lässt mich zurück.
Ich lege mich wieder auf mein Bett. Langsam, weil mir jede Bewegung Schmerzen verursacht. Ich denke an Jan. Jetzt geht er die Treppe hinunter, jetzt öffnet er die Haustür, jetzt geht er die Straße hinunter bis zur Ecke, sieht erst nach links, dann nach rechts, dann noch einmal nach links, seine zutiefst gewissenhaften Eltern waren auch Meister der Verkehrserziehung. Jetzt geht er über die Kreuzung, jetzt geht er zu Faruks Kiosk, kauft sich ein Croissant für später, jetzt geht er weiter, jetzt kommt er bei seinem Büro an. Es ist nicht weit entfernt, er hat sich einen Schreibtisch in einer Bürogemeinschaft für selbständige Randexistenzen gemietet, um seine Projekte durchzuführen, weil er der Meinung ist, dass wir nicht beide gleichzeitig zuhause arbeiten können. Wahrscheinlich hat er grundsätzlich Recht.
Ich bin mir gerade aber nicht einmal sicher, ob er zuhause bleiben würde, wenn er wüsste, dass ich gar nicht mehr arbeite.
Ich weiß nicht, was dieses Mal der Auslöser dafür gewesen ist. Ich kenne diese Zustände bereits, ich kenne sie seit meiner Jugend, aber kein einziges Mal war es so schlimm wie jetzt. Bisher hat es geholfen, sich einfach ein paar Tage tot zu stellen, viel zu schlafen und sich auszuruhen, zu vergessen. Diesmal ist es anders. Ich zermartere mir jeden Tag das Hirn, was ich übersehen haben könnte, in meinem Kopf läuft ein endloses Tonband, das immer wieder die gleichen Fragen stellt, alle möglichen Gedanken taumeln in meinem Kopf hin und her. Doch ich komme auf keine Lösung.
Fast jeden Vormittag ruft meine Mutter an. Ich habe ihr irgendetwas von Rückenschmerzen erzählt, als sie mich eines Tages wie eine alte Frau durch die Gegend wanken sah. Doch sie kennt mich, sie weiß genau, wann ich lüge. Dennoch spielt sie das Spiel mit, ruft wieder und wieder an und erkundigt sich nach meinem Befinden, gibt mir Tipps, welche Hausmittel ich ausprobieren solle, Bäder, Sauna, Franzbranntwein, ihre Schwester habe gesagt, dass auch Fußreflexzonenmassage in solchen Fällen außerordentlich hilfreich sei. Ich murmele meine Zustimmung und tue doch nichts davon. Du arbeitest zu viel, sagt sie, du musst dich auch mal ausruhen, fahr doch einfach mal ein paar Tage alleine weg. Ich sage ihr nicht, dass schon die Vorstellung, in einen Zug steigen zu müssen, zu viel für mich ist. Und schaff dir endlich einen neuen Stuhl an, mahnt sie, ich sag dir schon lange, dass man auf deinem nicht lange sitzen kann, ich mache mir solche Sorgen um dich, was kann das nur sein mit deinem Rücken, ich liege jede Nacht wach und denke darüber nach, was es sein könnte, was sagt denn der Arzt? Sie hat sich vor längerer Zeit angewöhnt, jede meiner Krankheiten zu ihrer zu machen, so dass ich nicht nur unter meinen Symptomen leide, sondern auch unter den Schuldgefühlen, und jede ihrer Zuwendungen packt eine zusätzliche Last auf meine Schultern. Jetzt erwidere ich, dass ich noch nicht dort war, ich hoffe immer noch, dass das nicht nötig sein wird. Aber vielleicht solltest du doch mal hingehen, raunt meine Mutter, vielleicht hat es auch mit Jan zu tun, ist zwischen euch alles in Ordnung, flüstert sie. Hör auf damit, stöhne ich, zwischen uns ist alles gut, ich spreche mit meiner Mutter nicht mehr über meine Beziehungen, seit sie es geschafft hat, meine letzte vollständig zu vergiften, mit ihrem ständigen Raunen hat sie solange Zweifel in mir gesät, dass ich die Beziehung beendet habe. Zumindest in dieser Hinsicht bin ich heute weiter als früher.
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