Doch meistens war alles vergnügt. Einer ihrer Freunde fuhr sie stundenlang mit seinem Cabrio durch die Stadt oder sang ihr Lieder auf der Gitarre vor, ein anderer besaß ein kleines Schloss in der Nähe und badete sie in seiner Wanne in Champagner und Kaviarhäppchen. Ein einziges, nicht enden wollendes Fest von Begehren und Begehrt-Werden, ein ständiger Reigen von Personen, die im Endeffekt wohl austauschbar waren.
Komischerweise gibt es keine Fotos meiner Mutter aus dieser Zeit. Entweder hat sie diese ganz tief in einer Kiste versteckt (was ich nicht glaube, denn dazu genoss sie das Erzählen zu sehr) oder diese Zeit war einfach auf Flüchtigkeit angelegt. Wie gewonnen, so zerrinnt.
Ich weiß nicht, ob es die nachglühende Stimmung der 68-er war, die meine Mutter zu diesem Lebensstil getrieben hat, oder die diebische Freude über die gelungene Flucht aus ihrem spießigen und lebensfeindlichen Elternhaus. Vielleicht beides ein bisschen. Irgendwann jedoch erinnerte sich meine Mutter wieder an meinen Vater. Der lebte inzwischen sein eigenes Leben, hatte einen gut bezahlten Job in einer Werbeagentur und wollte nichts mehr von ihr wissen. Und dann begann eine Episode, die ich bis heute nicht verstehe. Meine Mutter reiste immer wieder zu ihm, legte sich heulend vor seine Tür. Ließ sich ihre Nase mittels einer zutiefst mittelalterlichen Prozedur operieren, weil sie glaubte, ihm dadurch mehr zu gefallen. Plötzlich wurde ihre Geschichte zu einer Leidensgeschichte, sie war plötzlich nicht mehr die ewige Verführerin, sondern nur noch eine verstoßene Magd. Vielleicht kannte sie diese Rolle im Endeffekt besser, denn schließlich wurde sie schon in ihrer Jugend von ihren Eltern zum Arbeiten als Telefonistin geschickt, während ihre Brüder studieren durften. Oder es war nur das Nicht-Mehr-Begehrt-Werden durch meinen Vater, das ihre Eroberungslust anstachelte.
Aus mir ebenso unerfindlichen Gründen erhörte mein Vater irgendwann ihr Flehen. Obwohl seine eigene Mutter ihm davon abriet, weil sie sich wohl eine anständigere Schwiegertochter gewünscht hatte, heiratete er meine Mutter. Auf den Fotos von der Trauung trägt sie ein knielanges weißes Kleid und einen breitkrempigen Hut. Sie sitzt im Standesamt neben meinem Vater und sieht den Beamten an wie den Heiligen Vater höchstpersönlich, mit einem fast als unschuldig durchgehenden Augenaufschlag. Vielleicht wusste sie, dass ihre Zeit der Selbstbestimmung so nicht ewig hätte weitergehen können, ohne in Mord und Totschlag zu enden, vielleicht bekam sie auch nur Angst vor der eigenen Chuzpe. Ich weiß es nicht.
Die offiziellen Fotos vom Brautpaar stellen diesen Eindruck jedoch seltsamerweise wieder infrage. Meine Eltern strahlen darauf um die Wette, sie mit einem leicht ironischen Klein-Mädchen-Lächeln und er mit einer fetten Zigarre im Mundwinkel, sie kokettieren mit ihrem Geschlecht, ihrer Rolle, als wüssten sie genau, was von ihnen erwartet wurde, und versuchten gleichzeitig, sich darüber lustig zu machen. Diesen kurzen Anflug von Selbstironie haben sie jedoch nicht in ihren Alltag retten können.
Ein paar Jahre später wurde meine Mutter mit mir schwanger. Sie behauptet bis heute, es erst sehr spät gemerkt zu haben, da sie weiterhin ihre Tage bekam, zu dem Zeitpunkt sei es für einen Abbruch schon zu spät gewesen. Sie habe darüber nachgedacht, weil mein Vater eigentlich keine Kinder gewollt habe. Eine Aussage, die ich ihr bis heute übel nehme, denn egal, ob sie der Wahrheit entspricht oder nicht, es gibt Dinge, die man seinen Kindern besser verschweigen sollte. Aber Taktgefühl war noch nie eine ihrer großen Stärken. Außerdem glaube ich bis heute, dass sie eigentlich von sich gesprochen hat.
Meine Mutter behauptet außerdem, während der Schwangerschaft keine großen Probleme gehabt zu haben. Keine Übelkeit, keine Müdigkeit, kaum Gewichtszunahme. Sie habe auch ganz am Ende immer noch in ihre alten Hosen gepasst. Ein kleines Wunder. Ein Kind, das kaum an Größe zulegt. Eine unsichtbare Schwangerschaft. Sollte sie sich patentieren lassen. (Auch von dieser Zeit gibt es keine Fotos, so dass ich lange Zeit dachte, adoptiert worden zu sein. Eine tröstliche Kinderphantasie, irgendwann, so hoffte ich, würden meine wahren Eltern auftauchen und mich abholen. Ich habe das Warten dann schließlich aufgegeben.)
Einige Wochen vor dem Entbindungstermin zogen meine Eltern um. Während mein Vater arbeiten ging, packte und schleppte meine Mutter bis zum Umfallen. Noch am Tag meiner Geburt putzte und schrubbte sie und schleppte schwere Tüten nach Hause, obwohl sie schon erste Wehen hatte, dann ging plötzlich alles ganz schnell. Die Wehen wurden rasch stärker, sie rief meinen Vater an, der zunächst nicht kommen wollte, weil er das Ganze für falschen Alarm hielt, und sie schließlich doch ins Krankenhaus fuhr. Wenig später war ich auf der Welt, zwei Wochen zu früh, geboren am 7. August 1974 in einem gewöhnlichen, nach Essensresten und Desinfektionsmitteln stinkenden, mitteldeutschen Krankenhaus in dumpfem Graublau.
Kein großes Drama, hätte aber auch besser laufen können. So kam meine Mutter nach drei Tagen Klinikaufenthalt in eine neue Wohnung, in der nur unausgepackte Kisten standen und das Chaos regierte. Mein Vater ging weiterhin arbeiten, während sich meine Mutter mit der neuen Situation zu arrangieren versuchte. Schöne, kleine Elternwelt.
Erst viel später, als ich ungefähr acht oder neun Jahre alt war, habe ich erfahren, was noch an meinem Geburtstag passiert ist. An diesem Morgen gingen die Menschen wie immer und überall auf der Welt zur Arbeit, so auch in New York City. Sie waren müde, sie waren erschöpft, denn ein Tag wie jeder andere wartete auf sie, in einem Büro, das aussah wie alle anderen, sie trugen ihre Aktentaschen, sie sahen zu Boden, um etwaigem Müll auszuweichen, sie verfluchten ihr Leben. Doch plötzlich stand vor ihnen eine Frau, mitten auf dem Bürgersteig, mit verzückter Miene, eine junge Frau mit langen Haaren deutete mit ihrem Zeigefinger nach oben, in den Himmel, als wolle sie darauf hinweisen, dass in diesem Augenblick der jüngste Tag anbreche und ihre Erlösung unmittelbar bevorstehe. Die Leute blieben stehen, in New York ist man zwar Verrückte gewohnt, aber diese Frau wirkte so überzeugend in ihrer Begeisterung, dass sie alle an deren Ursache teilhaben wollten. Zunächst sahen sie kaum etwas, denn der Tag war etwas diesig, zwischen den Wolkenkratzern hingen Nebelschwaden, vor allem zwischen den noch im Bau befindlichen Türmen des World Trade Centers, aber dann erahnten sie doch etwas, eine zarte Linie, einen dünnen Strich, der sich zwischen den beiden Türmen abzeichnete, und darauf ein winziger Punkt, der sich bewegte, was war das, doch nicht etwa ein Mensch?
Philippe Petit hatte diese Aktion mehrere Jahre lang geplant, immer wieder war er nach New York geflogen, um den Fortgang des Baus zu beobachten, um seine Möglichkeiten genauestens zu eruieren, um Helfer zu finden, die ihn bei seinen Vorbereitungen unterstützen sollten, aber er wählte sich exakt meinen Geburtstag, den 7. August 1974, um seinen Drahtseilakt auszuführen. 45 Minuten schwebte er dort oben auf 417 Metern Höhe, tanzte auf dem Seil hin und her, kniete nieder und verbeugte sich, legte sich sogar in seiner ganzen Länge darauf, als wolle er ein Nickerchen machen, während die Zuschauer auf der Straße ihren Augen zuerst nicht trauen und dann ihren Blick überhaupt nicht mehr lösen konnten von diesem Zauber zwischen den Wolken, von diesem Wunder, das sie plötzlich alles vergessen machte, ihren Alltag, ihr Leben, ihre Angst.
Als ich das erste Mal Fotos von Petit sah, dort oben zwischen den Türmen, konnte auch ich es nicht glauben. Wie konnte ein Mensch dies schaffen, wie konnte er in dieser Höhe über ein nur fingerdickes Seil laufen, wie gelang es ihm, von seiner Furcht nicht so übermannt zu werden, dass er in die Tiefe stürzte? Ich begriff es nicht, es ist mir bis heute ein Rätsel. Aber irgendwie hatte ich als Kind immer das Gefühl, dass das kein Zufall sein konnte, sein Drahtseilakt zwischen den Türmen und mein Geburtstag, sie waren in mir auf geheimnisvolle Weise miteinander verknüpft, als sei auch ich dazu auserwählt, irgendwann einmal etwas so Wundervolles zu vollbringen.
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