Ich schreibe Tagebuch seit ich in der Therapie bin. So kann ich zu jeder Zeit meine Gedanken und Gefühle herauslassen und muss nicht bis zur nächsten Sitzung warten. Dann kann ich auch im Gespräch alles aus der letzten Woche ansprechen. Hier ist ein Eintrag aus meinem Tagebuch:
'Warum schreibe ich auf einem Zettel und nicht im Tagebuch? Das ist mein Heft, der Zettel ist anonym. Den Zettel kann ich wegwerfen. Ich traue mir nicht. Ich habe so viel von mir preisgegeben, spontan, das macht mir Angst. Immer wieder die Frage, was habe ich da gesagt, was war falsch? Aber das war doch mein Empfinden, das kann doch nicht falsch sein. Aber durch das Aussprechen ist alles schlimmer geworden. So lange es nur meine Gedanken gewesen wären, hätte ich es immer unterdrücken können. Aber jetzt ist es gesagt, und irgendwie schäme ich mich für meine Empfindungen. Warum? Warum komme ich nicht los von meiner Mutter, will sie scheinbar sogar noch jetzt davor beschützen, verletzt zu werden. Das ist ein irrer Zwiespalt. Denn auf der anderen Seite habe ich das innere Bild von meiner Mutter verloren.'
Wie sah dieses Bild aus? Es war einfach das Gefühl „meine Mutter“. Mit dem Wort Mutter verbinde ich Liebe, Zärtlichkeit, Schutz, Verständnis, Mitgefühl, Trost. Da habe ich gefühlsmäßig in einer Scheinwelt gelebt.
Ich bin wie erstarrt.
Ich kann es nicht glauben. Ich will es auch nicht glauben. In den Therapiegesprächen erinnere ich dann immer neue Situationen, die mir das Gefühl geben, ich muss es glauben. Aber immer wieder der Gedanke, so kann eine Mutter nicht sein.
Ich führe dieses Tagebuch zum einen um meine Erkrankung mir selbst zu erklären und zum anderen in der Hoffnung, die Macht dieser Erlebnisse aus meiner Seele herauszulassen, die Erlebnisse selbst werden immer in mir sein.
Die Erinnerung einer Erzählung
Meine Mutter erzählte mir manchmal, wie schwer ihr Leben war mit drei Kindern im Krieg, und dass sie mich gar nicht gewollt hatte. Dabei sprach sie immer wieder über dieses Erlebnis:
Als ich ein Jahr alt war, fuhr meine Mutter mit uns drei Kindern aufs Land. Die Kriegsgeschehnisse wurden immer heftiger, und man brachte Mütter mit Kindern aus den Städten für eine begrenzte Zeit dorthin. Ich hatte gerade eine schwere Bronchitis überstanden und danach angefangen zu schielen, und zwar ziemlich stark. Wenn meine Mutter nun mit den Kindern draußen war in diesem kleinen Ort, wurde sie wiederholt angesprochen, dass das kleine Mädchen aber stark schiele. Sie war so empört darüber, was die Leute sich wohl dabei dachten. Sie empfand es als persönliche Beleidigung. Aber ich schielte doch wirklich.
Dann kam die Fahrt zurück nach Hause. Es war sicher nicht leicht, mit drei Kindern und Gepäck in den überfüllten Zügen im Krieg klar zu kommen. Aber es gab Rote-Kreuz-Schwestern, die den Müttern halfen. Sicher konnte es passieren, dass man ein Gepäckstück vergaß, oder dass die Kinder schrien und die Mütter noch nervöser wurden. Aber ich denke, jede Mutter wäre besorgt gewesen, ihre Kinder bei sich zu haben und wieder mit nach Hause zu bekommen. Wenn ich die Erzählung meiner Mutter über diese Fahrt, die ich manchmal noch im Ohr habe, überdenke, wird mir ganz unheimlich zumute. Die Art und Weise, wie sie sie erzählte, war von einer Kälte und Gleichgültigkeit geprägt. Als sie im Zug war und der sich schon fast in Bewegung setzte, hörte sie auf dem Bahnsteig eine Schwester aufgeregt rufen: „Hier ist noch ein Kind, hier ist noch ein Kind!“ Da erst bemerkte sie, dass es ihr Kind war. Ich. Man reichte mich noch schnell durch das Fenster hinein und für meine Mutter war es schrecklich, dass sie mich nun auch noch irgendwo unterbringen musste.
Ihre Erzählung empfand ich wie eine Geschichte, die niemals von meiner Mutter und mir handeln konnte, sie war so ohne Gefühl. Meine Mutter gab sich nicht als besorgte, ängstliche und dann frohe Mutter zu erkennen.
Ich kann doch nicht dieses Kind gewesen sein, denn sonst wäre meine Mutter doch froh gewesen, mich wiederzuhaben. Diese Geschichte ist nicht mein Leben, sie scheint neben mir abgelaufen zu sein. Aber ich muss mich der Wahrheit stellen, sie ist mein Leben. Ich leide fürchterlich unter dieser Erkenntnis. Ich habe meine Mutter so sehr geliebt bis zu ihrem Tod, dass ich ihre Liebe zu mir nie in Frage gestellt habe. Aber nach der Aussage der Therapeutin war meine Liebe so groß, dass ich die Lieblosigkeit meiner Mutter kompensiert habe.
Ich suche immer wieder nach einem Strohhalm, der mich im Leben hält. Ich lerne Keyboard spielen und texte das Lied "Blowin' in the wind" für mich um:
So viele Menschen sind schrecklich allein,
und ich habe doch so viel mehr.
Denn ich hab meinen Mann und die Kinder sind mein,
warum quäle ich mich so sehr?
Oh, warum, lieber Gott, hilfst Du mir nicht heraus,
aus dieser unendlichen Not,
wo nichts besser scheint als nur noch der Tod.
Dabei lebe ich doch so gern.
Oh, lieber Gott, warum siehst Du es nicht?
Ich halte es so nicht mehr durch.
Die Last auf meiner Seele, an der ich zerbrech‘,
sie lässt mich ganz einfach nicht los.
Dieser Druck in dem Herzen und Krampf in dem Bauch,
sie nehmen mir all meine Kraft.
Wenn Du mir nicht hilfst, was soll dann werden aus mir?
Befreie mich von dieser Last.
Ich trage beim Spielen einen Kopfhörer, und so kann ich die Musik laut oder leise stellen, je nach meiner Stimmung. Und den Text flüstere ich oder schreie ihn innerlich. Es ist jedes Mal ein einziger Hilfeschrei.
Ich war gut 3 Jahre, mein Bruder fast 7 Jahre alt. Mein großer Bruder, fast 10 Jahre alt, war bei einer Tante. Meine Eltern gingen ins Theater. Das war eine ausgesprochene Seltenheit. Wir bekamen eine Flasche Brause und Kekse. Das gab es sonst nie. Es war noch hell draußen, mein Bruder öffnete ein Fenster und wir setzten uns auf die Fensterbank und ließen die Beine heraus baumeln. Wir wohnten Parterre. Als die Nachbarin uns ansprach, verschwanden wir schnell. Dann wollte mein Bruder den Ofen anmachen. Er hatte beobachtet, wie meine Mutter das immer machte. Sie stellte eine angezündete Kerze vor den Ofen, damit sie nicht so viele Streichhölzer verbrauchte. Er wusste auch, wo die Kerze und die Streichhölzer zu finden waren. Dann brauchte er noch etwas von dem Buschholz, das hinter dem Haus lag.
Ich hatte am Morgen ganz viele Blumen auf den Holzhaufen geworfen. Eigentlich hatte ich diese Blumen im Wald für meine Mutter gepflückt. Doch sie konnte sie nicht gebrauchen und hatte mir gesagt, ich solle sie auf den Holzhaufen werfen. Ich war traurig darüber.
Mein Bruder holte nun also dieses Gemisch als Holz und Blumen herein und steckte es in den Ofen - eine Blume blieb davor liegen -, zündete die Kerze an und wollte noch mehr Holz holen. Ich war allein, sah die Kerze und sah die Blume. Ich kroch um den Tisch herum, um zu der Blume zu gelangen. Als ich sie hatte, vergaß ich wohl die Kerze und kroch daran vorbei. Ich hatte Zöpfe, und gerade der Zopf in der Nähe der Kerze war aufgegangen. So fing mein Haar Feuer. Ich sehe mich noch heute auf dem Fußboden sitzen, hin- und her rutschend und schreiend. Zum Glück waren unsere Untermieter zu Hause, einer stürmte ins Zimmer, klatschte kräftig in die Hände und löschte so das Feuer. Sie wickelten mich dann in eine Decke und trugen mich zur Sanitätsstation. Ich fühlte mich sehr geborgen und zupfte mir die vom Feuer zu Spiralen aufgedrehten Haare vom Kopf. Ich hatte keine unangenehmen Gefühle, im Gegenteil ich spürte die Decke und dass ich auf dem Arm getragen wurde und jemand für mich da war. Was auf der Sanitätsstation passierte, erinnere ich nicht und auch nicht, wie ich wieder nach Hause und in mein Bett gekommen bin.
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