Ich habe immer gedacht, dass mein Leben ganz normal verlaufen ist. Gut, ich wusste, dass meine Kindheit durch den Alkoholismus meines Vaters nicht in Ordnung war. Ich war daher sehr empfindsam. Doch ich habe mir immer wieder eingeredet, diese Zeit und die Erlebnisse haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Und ich war mit meinem Leben zufrieden und glücklich.
Bis ich krank wurde. Ich hatte schon immer unterschwellig an Ängsten und Niedergeschlagenheit gelitten und oftmals trat es als ein körperliches Symptom hervor. Doch ärztliche Untersuchungen ergaben immer wieder die Diagnosen: Erschöpfungszustand. Also nichts Organisches und so wurde ich einige Zeit nur mit Beruhigungstabletten behandelt. Doch durch Entspannungsübungen, die ich 1974 lernte, kam ich davon wieder weg.
Doch dann trat die Angst geballt auf. Eines Tages sprang sie mich wie ein Tiger an. Am helllichten Tag auf dem Nachhauseweg von der Arbeit. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr weitergehen zu können. Ganz in der Nähe war die Praxis meiner Frauenärztin. Ich ging dorthin und bat um Hilfe. Die Ärztin machte für mich einen Termin bei einem Psychiater. Das war ein schwerer Schritt. Ich bekam dort die ersten Erkenntnisse über mich und natürlich - Tabletten. Doch ich versuchte immer wieder, wenn es mir besser ging, von diesen Tabletten wegzukommen. So schaffte ich wieder ein paar Jahre. Aber die Angstzustände und die depressiven Phasen wurden stärker.
Wovor hatte ich eigentlich Angst? Ich befürchtete, dass ich etwas getan oder gesagt haben könnte, was meiner Familie schadet. Es lief immer ein Krimi in meinem Kopf ab, dass ich meine Familie ins Unglück gestürzt haben könnte. Ich hatte immer öfter körperliche Beschwerden, irgendwie schien mein Herz aus dem Takt. Mein Hausarzt versuchte es mit pflanzlichen Mitteln und seine Vertretung empfahl mir Wechselduschen. Es war zum Verzweifeln.
Dann kam ein besonderer Tag. Ich war krankgeschrieben und in einer ziemlich starken Angstphase. Dann kam der Anruf von unserem älteren Sohn, dass unser erstes Enkelkind auf die Welt gekommen ist. Er sagte am Ende unseres Gesprächs: „Du darfst es nicht Papa erzählen, das will ich selbst tun.“ Nach diesem Satz war ich plötzlich wie ausgeschaltet, in mir rührte sich nichts, ich konnte mich selbst nicht verstehen. Ich hatte monatelang für dieses kleine Baby gestrickt und all meine Vorfreude auf dieses kleine Wesen in die Handarbeiten gelegt. Doch wo war diese Freude nun? Ich war über mich selbst erschrocken. Am Nachmittag hatte ich einen Arzttermin und ich erzählte von der Leere in mir. Daraufhin wurde ich wieder zum Facharzt geschickt. Ich wollte zu einer Frau, doch das war eine herbe Enttäuschung. Ich sagte ihr, dass ich ständig in der Angst lebe, etwas Falsches zu sagen oder falsch zu handeln, so dass ich meine Familie in Gefahr bringen könnte. Nach dem Gespräch stand ich vor der Praxis mit der Aussage:
„Warum haben Sie denn Angst, sie sind 51 Jahre alt und verheiratet, haben zwei erwachsene Söhne. Suchen Sie sich eine Gruppe, in der sie über diese Dinge sprechen können und ein Feedback bekommen, ob sie etwas Falsches sagen. Ich kann ihnen aber keine Gruppe nennen.“
Ich fühlte mich entsetzlich allein und verlassen. Sie hatte nichts verstanden. Mit neuen Pillen in der Hand irrte ich durch die Straßen und durch die nächsten Wochen. Ich fand eine Gruppe, aber das war nicht das Richtige für mich. Mein Mann hatte mich hingebracht und wieder abgeholt und ich spürte ganz deutlich, dass er diesen Weg nicht gut fand. Also so ging das nicht. Ich konnte gegen meine Krankheit nur etwas unternehmen, wenn er voll dahinter stand. Er war meine Hilfe und Stütze und wir brauchten beide volle Offenheit und Vertrauen.
Durch Zufall und mit Verzögerungen, da es keine freien Termine gab, kam ich dann zu einer Psychotherapeutin. Ich hatte ihre Adresse von einer ehemaligen Klassenkameradin bekommen, die ich zufällig getroffen hatte, und die offen über ihre Probleme sprach. Ich sprach da zum ersten Mal mit einem fremden Menschen über mich. Ein paar Tage später ging ich dann zu der Praxis, kehrte aber wieder um. Dann rief ich an und bekam einen Rückruf von der Ärztin selbst. Die Stimme klang gut. Ich wurde vertröstet und dachte, das war es nun wieder. Doch ein paar Wochen später kam ein erneuter Anruf, es war ein Platz frei geworden. Als ich zu dem ersten Gespräch ging, war ich ziemlich am Ende meiner Kräfte. Die Ängste, die ich inzwischen hatte, zerfraßen mich langsam.
Dann saß ich der Ärztin gegenüber und hatte das Gefühl in einer anderen Welt zu sein. Da war ein fremder Mensch, der fing mich auf, hielt mich fest, hüllte mich in eine Geborgenheit und Wärme. Ich mochte gar nicht wieder weggehen.
Rückblicke auf meine Kindheit
So kam ich in die Psychotherapie, die mich 15 Jahre lang am Leben gehalten hat. In den Gesprächen erkannte ich, dass meine Kindheit nicht nur nicht normal war, sondern überhaupt keine Kindheit gewesen ist. Ich hatte bei meinen Eltern kein Selbstwertgefühl entwickeln können, Liebe gab es für mich nur als Belohnung. Also musste ich mich immer anstrengen, um geliebt zu werden. Und was sonst noch alles nicht normal war, werden sie in diesem Buch entdecken.
Trotzdem habe ich die ganzen Jahre teilweise sogar sehr gut gelebt, meine eigene Familie aufgebaut, zwei Kinder großgezogen. Das war das, was ich mir von meinem Leben vorgestellt hatte.
Aber jetzt war alles anders. Es gab nur noch die Angst. Und die Angst vor der Angst. Aber ich bekam Hilfe, sehr große Hilfe von meinem Mann, der diese Behandlung voll mit trug, und von dieser Ärztin.
Wir kannten alle nicht den Grund für meine Ängste, die mich immer wieder lähmten, die mir die Kraft nahmen und mich zeitweise lebensunfähig machten. Ich konnte nichts mehr unterschreiben, keine Briefe in den Briefkasten werfen, keinen Müll wegwerfen ohne eine Panikattacke zu bekommen. Dann war immer nur die Frage in meinem Kopf, habe ich jetzt etwas gemacht, das der Familie schaden könnte. Dann konnte ich nichts mehr steuern oder beeinflussen. Manchmal konnte ich überhaupt nicht aus dem Haus gehen. Wenn das Telefon klingelte, fing ich an zu zittern. So kauften wir einen Anrufbeantworter, und ich konnte nur die Gespräche entgegennehmen, die ich wollte.
Während der Therapiegespräche stießen wir immer wieder auf Kindheitserlebnisse, die ich vorher teilweise wie eine Geschichte abgetan habe oder gar nicht in Erinnerung hatte. Anstöße, diese Geschichten aus den dunklen Ecken herauszuholen, gaben aktuelle Erlebnisse oder Träume. Wir sprachen in den Stunden intensiv darüber, und ich lernte die Gefühle kennen, die ich als Kind hatte. Wie habe ich das als Kind nur aushalten können?
Die erste schlimme Erkenntnis in diesen Gesprächen ist die Entdeckung, dass meine Mutter mich nicht geliebt hat. Weil ich ein Mädchen bin, hat sie mich abgelehnt. Ich entdecke dies, als ich von meiner Therapeutin die Aufgabe bekommen habe, die Gefühle, die meine Mutter mir entgegenbrachte, in Farben darzustellen. Ich sitze lange vor dem weißen Blatt Papier. Als ich mich endlich in die Aufgabe fallen lasse, entsteht wie von selbst ein ganz anderes Bild.

Als ich mit meinem Bruder darüber spreche, fragt er ganz erstaunt: „Hast Du nicht gewusst, dass unsere Mutter keine Mädchen mochte, das hat unsere Tochter schon sehr früh herausgefunden.“ Ich habe es nicht gewusst. Ich kann es einfach nicht verstehen, kann es bis heute nicht verstehen, dass man ein kleines Mädchen nicht liebhaben kann. Um was hat sie sich gebracht? Um was hat sie mich gebracht? Die Gefühllosigkeit, die ich bei der Geburt unserer Enkeltochter empfunden habe, die sich aber zum Glück in dem Moment in eine große Liebe umgewandelt hat, als ich dieses kleine Mädchen auf dem Arm habe, muss meine Mutter durch ihr ganzes Leben in sich getragen haben. Ich bin froh, dass ich dieses alles erst erfahren habe, nachdem sie gestorben ist. Denn so habe ich ihr all meine Liebe uneingeschränkt bis zuletzt geben können. Ich habe sie sehr intensiv in ihren letzten Wochen begleitet.
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