Aldred hatte das Ziel fokussiert, drei Fuß vor der gegenüberliegenden Wand. Er hatte seine Noten gesammelt und auf den Notenlinien des Liedes transportiert. Ein Wimpernschlag und er stand vor der Wand. Wie der Tag, wenn er morgens die Augen aufschlug, brach der Schmerz über ihn herein. Grell und gleißend. Ihm fehlte der halbe rechte Unterarm. In Zeitlupe sah er, wie das Blut sich sammelte, um den ersten Tropfen zu bilden. Mit aller Macht verdrängte er den Schmerz, schloss die Augen, stieg tief in das Lied hinein und spürte seinen Arm dort, wo er ihn zurückgelassen hatte. Er wusste, wie sein Arm im Lied aussehen sollte, er spürte, welcher Teil fehlte. Aldred sog mehr Energie aus dem Lied, holte seinen verstümmelten Arm hinterher und setzte ihn passgenau auf den blutenden Stumpf. Er nahm nicht wahr, wie Horna auf den Tisch trommelte, wie Imriel die Luft anhielt, wie Belio der Mund offen stand. Sein Arm war wieder an Ort und Stelle, nur waren es immer noch zwei getrennte Hälften. Erneut schöpfte er Wasser und Erde, Feuer und Luft aus dem Lied. Den Göttern sei Dank war der Mensch von Xallia geschaffen, der Göttin der Meere und der Seen, der Flüsse und Fische. Ihr Element war das Wasser... d eshalb müssen wir soviel trinken! schoss ihm durch den Kopf... und in Wassermagie war er stark. Der Schmerz beendete seine gedankliche Abschweifung schnell. Er verband die Knochen miteinander; zumindest würde die untere Hälfte jetzt nicht mehr abfallen.
››Wenn Ihr erlaubt?!‹‹, hörte er Imriels klare helle Stimme. Brantiks Nicken sah er dagegen nicht. Die Härchen an seinem Arm stellten sich auf und die Wunde begann zu prickeln, als Imriel sich zu ihm kniete und seinen Arm heilte. Die Blutung versiegte. Erschöpft hauchte Aldred ein schwaches: ››Vielen Dank. Arcomaga.‹‹ Seine Hände zitterten leicht. Er konnte kaum fassen, was gerade passiert war.
››Das war wohl ein Fehlgriff‹‹, Belio meldete sich zu Wort. Er klang eindeutig schadenfroh. Elende Ratte , dachte Aldred. Allerdings war das eher ein Reflex. Er fühlte sich viel zu matt, um wütend zu sein.
››Eben war er dort. Nun steht er hier. Sieht für mich wie ein Teleport aus‹‹, kommentierte Meister Horna, wenn auch mit brüchiger Stimme. Aldred lächelte dankbar auf den Boden hinunter.
››Es war kein korrekt ausgeführter Teleport. Das würdet Ihr genauso sehen, wenn er Euch teleportiert hätte, Kollege‹‹ Das war Brantik.
››Er ist zu guter Letzt komplett drüben angekommen. Und hat zusätzlich noch einen Heilzauber gewirkt.‹‹ Imriel schien ebenfalls für ihn zu sprechen. Aldred wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und atmete tief durch.
››Der nicht Teil der Aufgabe war.‹‹ Belio wieder.
››Das besprechen wir hinterher. Fahren wir mit der Prüfung fort. Bist du dazu in der Lage, Discipulus?‹‹ Der Vorsitzende achtete auf die Einhaltung der Form, wie es seine Aufgabe war. Glücklich machte Aldred das nicht; am liebsten wäre er ins Bett gekrochen. Aber was hatte er erwartet?! Eine Pause mit belegten Broten?! Immerhin gab Brantik ihm die Chance, die Prüfung zu Ende zu bringen. Das hätte er nicht müssen. Aldred konnte nicht ablehnen. Ablehnen war keine Option. Ablehnen war Scheitern.
Es folgten noch die Fragen, die mit dem Unterrichtsstoff wenig zu tun, es aber dennoch in sich hatten. Die Bibliothek brennt. Rettest du deine bewusstlosen Mitschüler oder die Bücher? Was bedeutet für dich Magie? Wie schätzt du deine eigene Leistung ein? Was hältst du von Magister Luvvins Unterricht? Was hast du an der Akademie gelernt? Ach, Verantwortungsbewusstsein. Heißt das, vorher hattest du keins? Für was würdest du dein Talent hergeben? Und so weiter und so fort.
Die ersten Minuten fühlte sich Aldred wie in Trance und genauso antwortete er. Bis Meister Horna seine flache Hand heftig auf den Steintisch klatschen ließ.
››Verzeihung‹‹, murmelte der Meister in Richtung des Vorsitzenden. Dann an Aldred gewandt. ››Bitte fahr fort.‹‹ Dieser riss sich zusammen, konzentrierte sich und hangelte sich fortan durch die Fragen wie der Affe durch den Dschungel.
››Vielen Dank, Discipulus Ravenor. Du kannst gehen. Wir beraten uns und rufen dich wieder rein.‹‹ Mit diesen Worten entließ ihn Meister Brantik und erhob sich, wohl um sich etwas die Beine zu vertreten. Aldred stieß die beiden kupfernen Türflügel auf und verließ die Kammer, in die Fjengel hineinschlüpfte. Im Vorraum sank er auf einer Steinbank zusammen, harrte der Entscheidung, die auf ihn wartete, und haderte mit sich selbst und seinem verdammten Pech. Oder war es Glück gewesen?
Die Zeit verstrich. Aldred schloss die Augen und lehnte sich mit dem Rücken an die kalte Wand. Er vermied es zu denken. Schritte weckten seine Neugier. Vielleicht kam Aleena, um ihm beizustehen? Oder sein Freund Amun? Nein, die Schritte der beiden hätte er erkannt. Wenige Augenblicke später bog der königliche Botschafter um die Ecke. Obwohl dieser vor geraumer Zeit Gemächer in der Akademie bezogen hatte, war sein Gesicht Aldred nicht vertraut. Er erkannte ihn an der typischen mit Goldfäden durchwirkten Kappe. Dazu trug der Botschafter eine Weste aus rotem Samt, welche passend zur Kappe mit goldenen Knöpfen und Stickereien verziert war. Auf den Schultern saßen prächtige goldene Borten. Die Weste spannte ein wenig über dem Bauch. Die Akademieküche schien ihm zu munden. Das Hemd war aus weißer Seide mit weiten pluderigen Ärmeln. Seine samtenen roten Beinkleider saßen eng und verschwanden in knöchelhohen Stiefeln aus schwarzem Leder. Abgerundet wurde das Bild von einem schmalen weißen Mantel mit goldener Bordüre, kaum einen Fuß breit, dafür vier in der Länge. Es hätte auch ein Tischläufer sein können. Aldred fragte sich, ob das derzeit Mode war in Weißbach, wo der König residierte. Je tiefer man den Blick senkte, desto weniger Schnickschnack fand man und desto weniger wirkte der Botschafter wie ein eingebildeter Pfau. Dennoch drängte der Vergleich sich auf.
Fjengel, der mit Erfrischungen in die Kammer der Wahrheit eingetreten war, kam in diesem Moment wieder heraus. Der Botschafter würdigte Aldred zwar eines Blickes, jedoch keines Grußes, und steuerte zielsicher auf den Scolaren zu.
››Kündige mich an‹‹, verlangte er barsch, sein Kinn ruckte noch ein Stück weiter nach oben und präsentierte einen immensen Kehlkopf.
››Die Arcomagi beraten grade, mein Herr. Ihr könnt jetzt nicht ...‹‹
››Ich vertrete den König. Ich kann immer!‹‹ Der Botschafter war laut geworden, dennoch klang er eher genervt und selbstbewusst als bedrohlich. Aldred schmunzelte in sich hinein. Fjengel nickte diensteifrig und öffnete die Tür. Als der Botschafter in die Kammer eilte, hörte Aldred den jungen Scolaren krähen: ››Der Juncker von Schwarzasche, Botschafter unseres Königs, Alrok des Ersten, aus dem Hause Tolkting.‹‹ Dann schloss sich die Tür und Aldred war wieder mit sich und seinen Zweifeln allein.
Keine zehn Minuten später schwangen ihm die Türflügel erneut entgegen und wurden zudem von einem lautstarken Wortgefecht begleitet.
››… König wird davon erfahren.‹‹ Der Juncker stürmte mit wehendem Mantel an ihm vorbei.
››Das hoffe ich! Die Prüfungen sind Akademieangelegenheit. Sagt ihm das!‹‹ Aldred staunte nicht schlecht. Der sonst so beherrschte Brantik klang regelrecht erregt.
Die Akademie machte unruhige Zeiten durch. Langsam aber stetig, wie die Brandung die Klippe bearbeitet, hatte König Alrok die letzten Jahre seinen Einfluss an der Akademie auszudehnen versucht. Vor zwei Jahren war mit dem Juncker von Schwarzasche ein Botschafter des Königs in Samarant eingetroffen und geblieben. Damals hatte er spontan das größte Gästezimmer der Akademie bezogen und es schlicht und einfach nie wieder geräumt. Viele Magier hatten gemurrt und taten das heute noch. Zumal der königliche Botschafter sich herausnahm, mehr und mehr in das Tagesgeschäft der Akademie einzugreifen, um – wie er nicht müde wurde zu beteuern – lediglich die Interessen des Königs zu vertreten. Interessen, die mitunter denen der Akademie und des Hohen Rates gar nicht entgegenliefen. Aber die Einmischung an sich rief größtes Unbehagen quer durch die Magierschaft hervor. Und manchmal traten eben doch Streitfälle auf.
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