››Discipulus Ravenor, der Hohe Rat erwartet Euch.‹‹ Fjengel, ein junger, blond gelockter Scolar, stand in der Tür und tippelte nervös von einem Fuß auf den anderen. Er fürchtete wohl die Rüge, sollte Aldred zu spät zur Prüfung erscheinen.
››Wir sehen uns als Magi wieder!‹‹, wisperte Aleena ihm zu. Und gab ihm einen Klaps auf den Allerwertesten mit. Aldred wollte ihr einen bösen Blick zuwerfen, irgendwie wurde aber ein gequältes Lächeln daraus. Den Weg bis zur Kammer der Wahrheit hatte er einen gefühlten Wimpernschlag später hinter sich gebracht. Wieso raste das Unglück immer auf einen zu, während das, was man herbeisehnte, Jahre brauchte, bis man es erreichte? Nun ja, Unglück. Er wollte diese Prüfung ja mehr als alles andere. Wenn er sie nur schon hinter sich hätte.
Aldred strich seine karminrote Robe glatt, seine neuen schwarzen Hirschlederstiefel hatte er heute morgen erst sauber gebürstet. Wenn er so darüber nachdachte, war die Kleidung eines Magiers ziemlich simpel gehalten. Dann nickte er Fjengel zu. Dieser öffnete die beiden großen kupfernen Türflügel und kündigte an: ››Discipulus Aldred Ravenor, zur Prüfung vor dem Hohen Rat!‹‹
Aldred folgte dem Scolaren hinein, trat in die Mitte des Pentagramms, das in den Fußboden eingelassen war, und verneigte sich vor seinen Prüfern.
››Wissen und Weisheit, ehrenwerter Hoher Rat.‹‹
››Wissen und Weisheit, Discipulus Ravenor‹‹, erklang die energische Stimme des Ratsvorsitzenden Erzmagier Brantik. Der Hohe Rat der Akademie bestand aus vier Erzmagiern, die sich jedes Jahr mit dem Vorsitz abwechselten. Hatte nach vier Jahren jeder den Vorsitz ein Jahr innegehabt, wurde die Reihenfolge für die nächsten vier Jahre ausgelost. Dergestalt versuchte man, etwaigen Intrigen und Vorteilsnahme entgegen zu wirken. Der Erfolg war überschaubar. Das hatte bislang kaum gestört, zielte die übliche Intrige doch eher darauf ab, dem Intriganten die größte Portion Eis mit heißen Kirschen zum Dessert zu sichern. Seltener war es geschehen, dass einzelne Günstlinge trotz mangelnder Qualifikation durch Prüfungen geschleust wurden, um sich später ihrer Unterstützung gewiss zu sein. Die Erzmagier überwachten sich gegenseitig mit Argusaugen, was das anging.
Erzmagier erhielten ihr Amt auf Lebenszeit. Starb einer, wurde von sämtlichen Magiern ein neuer aus ihren Reihen gewählt. Es leuchtete ein, dass die verbliebenen Erzmagier liebend gerne Einfluss nahmen. Die neusten Gerüchte besagten allerdings, dass der Ton im Hohen Rat rauer geworden sei. Genaues wusste man nicht.
Neben Meister Brantik sah Aldred auch seinen Mentor, Meister Horna, und Meisterin Imriel, eine Elfenmagierin aus dem Gezeitenwald. Erzmagier Zorn, der vierte im Rat, ließ sich von Magus Belio vertreten. Dieser war erst an die dreißig, kam aber Meister Zorn in Talent und Fähigkeit am nächsten. Aldred war ganz froh, hatte er Erzmagier Zorn, den stärksten Feuermagier der Akademie, doch als aufbrausend, fast jähzornig kennengelernt. Reich an Talent, wie auch an Körperfülle, schnaufte er wie ein Walross durch den Unterricht, brüllte los, sobald er jemandem beim Tuscheln erwischte und beschimpfte Scolari wie Discipuli bei falschen Antworten aufs Übelste. Erstaunlicherweise konnte man nach dem Unterricht halbwegs mit ihm reden, aber richtig wohl fühlte Aldred sich in seiner Anwesenheit nie.
Ähnlich war es allerdings mit Meister Brantik. Im Gegensatz zu Zorns kleinen wütenden Schweinsäuglein hatte Brantik eisblaue Augen, die keinerlei Emotionen preisgaben. Man wusste nie, woran man bei ihm war.
››Bist du bereit, dich der Prüfung zu stellen, Discipulus?‹‹, fuhr Erzmagier Brantik mit der formellen Einleitung fort.
››Ich bin bereit‹‹, gab Aldred zurück. Zumindest dieser Teil bereitete ihm keinerlei Probleme.
Er atmete tief durch, senkte den Blick und hob ihn gleich wieder zum Steintisch, an dem die vier Erzmagier nebeneinander auf hohen steinernen Thronen saßen. Ein imposantes Bild. Hinter jedem Thron reichte ein schmaler Vorhang je zwei Fuß breit, in der Farbe seines Elements von einem verzierten hölzernen Bügel unter der Decke bis auf den Boden. Feuerroter Samt hinter Belio. Orange Flammen waren eingestickt, einzelne Rubine eingearbeitet. Hornas Element war das Wasser und sein Vorhang war blau. Er hing vollkommen still, doch auf seiner Oberfläche schienen Wellen zu wogen wie auf dem Meer. Brantiks Vorhang bestand komplett aus weißen Federn, nur alle paar Fuß tauchte ein Pfauenauge darin auf. Imriel war die Meisterin der Erde. Ihr Vorhang war aus dunkelbraunem Bast gewoben. Rinde und Moos waren eingeflochten und zeigten kleine Bäume. Alle vier wirkten auf ihre Art und Weise prächtig.
››Erläutert uns bitte die Applikation Duplicatus, auch Abbild genannt.‹‹ Meister Brantiks Blick ruhte auf ihm. Interesse konnte Aldred darin nicht erkennen. Er holte tief Luft und begann.
››Man nehme Kontakt zum Lied Elluvias auf, der ewigen Quelle allen Lebens. Ist man mit der Melodie seines Selbst nicht ausreichend vertraut, sollte man sich diese erneut einprägen. Anschließend erstellt man mit Hilfe des Liedes eine exakte Kopie dieser Melodie und platziert sie mittels Willenskraft am gewünschten Ort des Erscheinens. Je originalgetreuer die Kopie, desto realer wirkt das eigene Abbild auf den gemeinen Betrachter. Nicht vergessen darf man, dass jegliche Kleidung gesondert ergänzt werden muss. Kleidung besteht ebenfalls aus den vier Elementen und kann temporär nachgebildet werden. Zum Auflösen des Abbilds muss man lediglich die Kontrolle über die Melodie fahren lassen. Die einzelnen Noten fügen sich wieder in die ursprüngliche Struktur der Umgebung ein.‹‹ Irgendwas hatte er vergessen, das wusste er.
››War's das?‹‹, Magus Belio beugte sich vor und ließ ein selbstgefälliges Grinsen sehen. Dafür nahm er einen missbilligenden Blick des Meisters der Luft in Kauf. Der Vorsitzende leitete die Prüfungen und gab vor dem Abschluss eines Themas den anderen Meistern Gelegenheit, eigene Fragen anzubringen. Noch war es dazu allerdings viel zu früh.
Aldred starrte durch seinen Mentor hindurch, während er in seinem Gedächtnis kramte. Verdammt! Eigene Melodie. Perfekte Kopie. Kleidung nicht vergessen. Es lag ihm auf der Zunge. Besser, er erinnerte sich zügig. Gleich die erste Frage zu verpatzen, würde einen Schatten auf die gesamte Prüfung werfen. Von Brantik konnte er keine Hilfe erwarten. Apropos.
››Discipulus Ravenor?‹‹, Brantiks Stimme forderte eine Antwort. Stimme? Klingelte da etwas? Kopierte man die komplette Melodie, wurden die gesamten Eigenschaften des Originals übernommen. Visuelle, auditive, olfaktorische, gustatorische sowie taktile Eigenschaften. Man konnte das Abbild sehen, hören, fühlen, ... Blutiger Dämonenarsch! , dachte Aldred. Das war es auch nicht. Ganz unbewusst hob Aldred die Hand, um sich durch den sauber gestutzten Bart zu fahren, der schwarz seine Lippen umschloss und das Kinn bedeckte. Siedendheiß fiel es ihm ein und fast hätte er wie ein Kleinkind vor dem Süßwarenladen losgeschrien. Bewegung! Natürlich!
Er räusperte sich und fügte mit gesetzter Stimme hinzu: ››Verknüpft man mit Hilfe des Liedes die Kopie mit dem Original, wird erstere sämtliche Aktionen des Originals zeitgleich ausführen. Je größer die räumliche Distanz zwischen beiden Melodien, desto mehr Kraft kostet diese Verbindung den Spruchwirker und desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine zeitliche Verzögerung eintritt. Daher wird Anfängern empfohlen, im Augenblick der Erstellung des Duplikatus die Arme in dessen Richtung auszustrecken, um die Distanz zu verringern.‹‹ Erleichtert atmete der Prüfling aus. Meister Horna tat es ihm gleich.
Da stand er nun. Sein größtes Talent. Zweiundzwanzig Sommer alt, schlaksig wie eh und je. Und nicht so selbstsicher, wie er ihn kannte. Erzmagier Horna knetete seine alten, knotigen Hände, die in letzter Zeit unzuverlässig wurden. Zum Glück benötigte er sie nur selten zum Zaubern, häufiger jedoch für die Alchemie, mit der er gern seine Zeit verbrachte. Gut , sagte er zu sich selbst, d ein Körper tut auch seit mehr als siebzig Sommern seine Dienste . Er wollte sich gar nicht beklagen, erreichten doch die wenigsten solch ein stolzes Alter. Nur war es überaus nervenaufreibend, wenn der Körper vor dem Geist nachließ. Wenn man nicht mehr konnte, wie man wollte. Andersherum stellte er sich das einfacher vor. Wenn man noch alles konnte, was man wollte, nur eben nicht mehr wusste, was das war. Das war dann eher für die schwierig, die einen aushalten mussten.
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