Nach Auffassung des Raj Guru, des geistlichen Oberhauptes der Pancha Buddha-Priester, hat mit dieser Entwicklung im Kumari Bahal ein rapider Werteverfall begonnen, der mittlerweile immer gravierendere Ausmaße annimmt. Dieser Mann ohne offizielles Amt spiele sich als alles entscheidender Hausherr auf. Dabei seien es doch die Pancha Buddha-Priester, die im Erdgeschoss des Kumari Bahal den Agam, jenen dunklen Tempelraum, betreuen. Schließlich liege doch gerade dort jene spirituelle Energie verborgen, die überhaupt erst einem Shakya-Mädchen zur göttlichen Existenz verhilft. Und nur die Pancha Buddha-Priester würden über das geheime Wissen verfügen, wie ein solcher transzententaler Prozess in Gang gesetzt werden könne. Daraus leite sich ja wohl das natürliche Recht ab, dass sie bei der Auswahl einer neuen Kumari ein wichtiges Wort mitzureden hätten.
Der Chitaidar aber würde dem königlichen Astrologen von vornherein nur die Horoskope von Mädchen aus ihm genehmen Familien vorlegen. Kommt das nicht einer Bevormundung der Göttin gleich, in welchen Körper sie inkarnieren darf und in welchen nicht? Doch damit nicht genug. Nach dem Spruch des Hofastrologen besucht er auch nicht mehr, wie früher üblich, die ausgewählte Familie gemeinsam mit einem der Pancha Buddha-Priester. Wie oft aber war in der Vergangenheit gerade die spirituelle Energie eines buddhistischen Priesters vonnöten, um die Mütter der künftigen Kumari daran zu hindern, ihren Töchtern die Haare abzuschneiden. Ohne genügend Haupthaar, das sich rituell zu einem Knoten binden lässt, das wussten sie, kann ein Mädchen keine Kumari werden. Der Chitaidar aber hat diesmal den Raj Guru gar nicht erst gefragt. Stattdessen hat er lediglich eine Verwandte des ausgewählten Mädchens zu dessen Familie geschickt – wenngleich mit Erfolg.
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Von seinem Stammplatz aus entdeckt der Chitaidar, wie Amrit Man Shakya mit seiner kleinen Tochter über den Hof kommt. Er ruft nach seiner Frau und eilt den beiden Besuchern entgegen, um zu verhindern, dass sie die Treppe bis in den Thronsaal hinaufsteigen. Die voraussichtlich neue Kumari soll der derzeitigen Mädchengöttin nicht begegnen.
In dem lang gestreckten Raum eine Etage tiefer sitzen sie sich schließlich einander gegenüber. Der Vater der künftigen Kumari ist ein bescheidener Mensch, seit vielen Jahren Busfahrer – der Chitaidar hatte Erkundigungen über ihn eingeholt. Dieser einfache, freundliche Mann sorgt für seine Familie und begeht alle Feiertage nach den strengen Regeln des von den Newar praktizierten Vajrayana-Buddhismus. Ein solcher Mann, so mag sich der Chitaidar überlegt haben, wird weder übertriebene Ansprüche noch überflüssigen Fragen stellen. Und seine Frau, die eigentliche Chitaidar, scheint keine Zweifel zu haben, dass die Gutachter des Palastes und auch der König selbst, dieses ausgesprochen hübsche Mädchen als Kumari bestätigen werden.
Sie mag es, dass die freundliche Frau dauernd zu ihr sagt, wie hübsch sie ist. Es gefällt ihr auch, wenn sie sagt, dass sie es hier ganz sicher schön finden wird, und alle, die hier wohnen, sich schon auf sie freuen. Und als der Mann mit der großen Brille erzählt, dass es im Haus auch noch andere Kinder gibt, sagt sie, dass sie ihre Schwester Anita mitbringen will. Ihre Ma will sie auch mitbringen, die kann sehr schön singen, und abends kommt Baa dann von der Arbeit und bringt für alle Erdnüsse mit… Warum aber freuen sich denn die fremden Leute nicht? Sie schaut zu ihrem Baa, aber auch der schaut ernst auf den Boden. Dann sagt der fremde Mann, sie würden jetzt zusammen zum König gehen, der möchte sie unbedingt kennen lernen. Und als sie fragt, ob er heute die Krone auf dem Kopf hat, wie auf dem Bild zu Hause, da lachen nun doch noch alle, und sie lacht auch.
Kumari Bahal – der Wohnsitz der lebenden Göttin
Neben dem Fenster der Mädchengöttin (rechts) sitzt der Chitaidar und beobachtet sowohl das Geschehen im Kumari Bahal, als auch im Hof unten
Es ist schon fast eine halbe Stunde her, seit die Frau des Mul Purohit die kleine Amita an die Hand genommen und den hohen Gang entlang geführt hat. Seitdem sitzt der Vater des Mädchens neben dem Chitaidar auf dem Flur im Königspalast und wartet. Sein Begleiter, das ist ihm schnell klar geworden, hat keine Ambitionen, sich mit ihm zu unterhalten. Wann immer Amrit Man Shakya den Ansatz dazu machte, antwortete der Chitaidar knapp und scheinbar unwillig. Warum das hier denn so lange dauern würde, wollte Amitas Vater wissen.
„Der Astrologe stellt erst noch das Horoskop vor“, bekam er zur Antwort.
Nach einer Weile fragte Amitas Vater, wer denn die zweiunddreißig für eine Kumari erforderlichen Schönheitsmerkmale an seiner Tochter überprüfen würde.
„Niemand“, sagte der Mann neben ihm auf der Bank, „die stehen alle in dem Horoskop.“
Tatsächlich aber hat die Frau des Mul Purohit eben hinter einer der raumhohen Flügeltüren genau diese Überprüfung abgeschlossen. Sie nahm es nicht mit allen Merkmalen gleichermaßen wichtig. Die absolute körperliche Unversehrtheit aber musste schon garantiert sein. Deshalb hatte sie Amita zunächst nackt ausgezogen und penibel alle Teile ihres kleinen Körpers nach möglichen Verletzungen abgesucht. Bei dieser Gelegenheit nahm sie dann auch gleich zur Kenntnis, dass man dem Kind die geforderten „wohlgestalteten, zarten und geschmeidigen Füße, die Schenkel eines Rehs, den Hals einer Muschel, tief im Becken sitzende Geschlechtsorgane und im Übrigen den Körper eines Banyanbaumes“ bescheinigen konnte. Sie hatte die Zähne nicht gezählt, doch überprüft, ob sie gerade stehen. Die Zunge war „feucht“, wie es die Vorschrift erfordert, und dass sie bei einem dreijährigen Mädchen auch „klein“ war, versteht sich von selbst.
Dann hatte die Frau des Mul Purohit das Kind wieder angekleidet. Die übrigen Merkmale würden die Gutachter des Königs nebenan, zu denen auch ihr Mann gehört, selbst in Augenschein nehmen. Sie sollen entscheiden, ob dies „die Wimpern einer Kuh, die Wangen einer Löwin und die tiefe Stimme eines Spatzes“ sind.
Als Amrit Man Shakya mit dem Chitaidar in den großen Saal gebeten wird, läuft Amita ihrem Vater entgegen und klammert sich an sein Bein. Sie lässt selbst dann nicht los, als der Mul Purohit sich zu ihr hinunterbeugt, um ihr eine Blumen-Kette um den Hals zu hängen, ihr eine Tika auf die Stirn und ein Geldstück in die Hand zu drücken. Die Münze solle sie nachher dem König geben.
Nachdem der königliche Oberpriester auch Amitas Vater und dem Chitaidar die Segnung einer Tika zuteil werden ließ, geht er zurück zu den Mitgliedern des Kumari-Komitees.
Die Herren an dem langen Tisch warten. Amrit Man Shakya und der Chitaidar warten auch. Und neben der großen Tür, durch die Amita vorhin hereingeführt worden war, wartet die Frau des Mul Purohit.
Niemand spricht. Amrid Man Shakya hat das Gefühl, als ob die Zeit stehen geblieben sei. Die alten Männer starren ohne äußerlich erkennbare Gefühlsregung auf das Mädchen, das die neue Kumari ihres Königs werden wird. Es kann daher nur spekuliert werden, welchen Gedanken sie dabei nachhängen.
Sicher ist dem Mul Purohit nicht entgangen, dass man diesmal eine besonders kleine Kumari gefunden hat. Das Mädchen ist noch nicht mal drei Jahre alt. Er mag an die positiven Erfahrungen denken, die man in der Vergangenheit mit besonders jungen Mädchen gemacht hat. Sie hatten während der Metamorphose zur Göttin nicht allzu hartnäckig an ihrem bisherigen profanen Leben festgehalten. Während der tantrischen Inthronisations-Zeremonie im Tempel, so haben ihm seine Taleju-Priester mehrfach berichtet, sei diese Veränderung vielmehr schon nach kurzer Zeit deutlich wahrnehmbar. Bei Mädchen hingegen, die schon älter als vier Jahre sind, hielten sich erfahrungsgemäß die bereits verfestigten individuellen Persönlichkeitsstrukturen der alten Existenz einige Tage länger.
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