Im Moment werden oben auf dem Balkon noch die Hände aneinander gelegt und nach allen Seiten zum Gruß vor das Gesicht geführt. Sobald der Monarch aber an die Brüstung treten und sich seinem Volk zuwenden wird, werden die Untertanen in ihm die Inkarnation des mächtigen Gottes Vishnu erkennen, den Bewahrer der hinduistischen Welt. Als solcher wird der nepalesische König jener Göttin Taleju nachher auf Augenhöhe begegnen, der sich einst einer seiner Vorgänger beim Würfelspiel in eindeutiger Absicht genähert haben soll. Die intellektuelle Elite um den Badaguruju findet den Kult um die jungfräuliche Kumari schon lange zuvor in den heiligen Schriften erwähnt. Demnach wurden, zumindest an den hohen Feiertagen, schon vor einem Jahrtausend Mädchen öffentlich als Manifestationen der Göttin Durga verehrt.
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Die Musikanten haben neben den beiden steinernen Löwen links und rechts vom Eingang zum Kumari Bahal Aufstellung bezogen. Als sie die altertümlichen Instrumente schließlich absetzen, wird es still auf dem Durbar-Platz – die erwartungsvolle Stille vor dem Erscheinen der Mädchengöttin. Nur die Touristen führen ihre Gespräche in vielen Sprachen der Welt ungehindert in der üblichen Lautstärke fort, geben sich untereinander Tipps, mit welcher Belichtungszeit das bevorstehende Ereignis am wirkungsvollsten zu fotografieren sei.
Der kleine Ganesh wird herausgeführt. Da er im leuchtenden Rot der Kumari gekleidet und wie diese geschminkt ist, halten ihn viele der ausländischen Besucher bereits für die Mädchengöttin. Hunderte Kameraverschlüsse klicken, Camcorder beginnen zu surren. Die Verwirrung unter den Touristen ist groß, als nun auch Baihrav in gleicher Aufmachung erscheint. Amrit Man Shakya aber weiß, dass die Kumari gar nicht durch das Haupttor ins Freie treten wird. Vielmehr ist dafür jenes unscheinbare Tor schräg unter ihnen vorgesehen. Früher als die meisten anderen hier, werden seine beiden Töchter also die Kumari gleich aus nächster Nähe sehen können. Doch sie wird nicht erscheinen, solange der König auf dem Balkon dort drüben noch Konversationen pflegt. Die Mädchengöttin erwartet die ungeteilte Aufmerksamkeit des Königs. Diese aber ist nur gegeben, wenn sich Mousuf Sarkar an die Brüstung seines Balkons begibt und hinüber zum Haus der lebenden Göttin blickt.
Zunächst treten die fünf Pancha Buddha-Priester in Gewändern jener Farben auf, deren Elemente sie verkörpern: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Himmel. Wie aber sollen die Shakyas das alles ihren kleinen Töchtern erklären? Sie versuchen es gar nicht erst, sondern belassen es dabei, ihnen zu sagen, dass dies die fünf Männer seien, die die Kumari vor der Macht der Dämonen schützen.
Plötzlich ertönt auf dem Durbar-Platz lauter Jubel. Nepals Herrscher hat sich an die Brüstung des Balkons begeben. Dieser Jubel aber gilt diesmal nicht dem König, sondern der Mädchengöttin Kumari, die in diesem Moment auf starken Mannesarmen durch die kleine Seitentür in die Öffentlichkeit getragen wird. Ihre rot gefärbten Füße, die keine Schuhe tragen, dürfen den unreinen Boden nicht betreten. Von der Begeisterung, die nun auch die Menschen auf dem benachbarten Basantapur-Platz erfasst, und dem Blitzlichtgewitter der Pressefotografen wird die Kumari begrüßt, wie anderswo Kinderstars aus der Welt des Films und des Showbusiness.
Den beiden Töchtern der Shakyas aus Bagbazar stehen vor Bewunderung und Staunen die Münder offen, obgleich die Kumari doch kaum anders aussieht als zuvor Ganesh und Baihrava. Die Mädchengöttin wird zu ihrem Wagen neben dem alten Königspalast Hanuman-Dhoka hinübergetragen und dort an einen Mann vom Guthi Sanasthan weitergereicht, der oben vor dem Kumari-Thron schon auf sie wartet. Einige Minuten vergehen, in denen auf dem Wagen hektische Betriebsamkeit herrscht.
Zuerst werden die beiden kleineren Wagen von Bhairava und Ganesh über den Durbar-Platz gezogen. Dann folgt der Wagen mit dem gewaltigen goldenen Aufbau, in dem die Kumari wie ein liegen gelassenes Püppchen wirkt. Doch schon nach wenigen Metern, direkt vor dem Balkon des Königs, stoppt die göttliche Kutsche schon wieder.
Der König und seine Kumari befinden sich nun auf gleicher Höhe. Nepals Herrscher ist der Einzige, der ihr lange und tief in die Augen sehen darf, ohne den Zorn der Durga fürchten zu müssen. Von diesem Recht aber macht der Monarch keinen Gebrauch. Vielmehr lässt er sich einige Münzen reichen, die er in Richtung des Kumari-Thrones schleudert, ehe der goldene Wagen von Männern der niederen Kasten an langen Seilen in Richtung der südlichen Altstadt gezogen wird.
Amrit drängt seine Familie zum Aufbruch. Seine beiden Töchter maulen zwar, aber er möchte den Durbar-Platz unbedingt verlassen haben, ehe sich einige tausend andere auch dazu entschließen. In den nächsten Tagen wird er immer wieder zu den verschiedenen Streckenabschnitten der Kumari-Prozessionen gehen. Stumm wird er die Göttin Taleju darum bitten, eine seiner Töchter zu erwählen. Die Mutter der beiden Mädchen aber wird zu Hause auf dem Sofa liegen und hilflos einem zwischen Hoffnung und Furcht schwankenden Gefühl ausgeliefert sein.
Amitas Eltern zu Beginn von Amitas Kumari-Zeit (im Hintergrund ein kleiner Altar mit dem Bild der Mädchengöttin)
Ich lese die charakterlichen Merkmale der Mädchen exakt aus dem Horoskop. Eine Kumari benötigt nämlich höhere charakterliche Qualitäten als der König, damit er sie verehren kann. Das ist wichtig für unser Land.
Mangal Raj Joshi Königlicher Chefastrologe
Der Astrologe, der Amitas Horoskop einst erstellt hat, hatte daraus nicht ersehen können, dass sie eine künftige Kumari ist. Er hatte nur davon gesprochen, dass sie außergewöhnliches Glück haben wird.
Mimita Shakya Amitas Mutter
In der Ecke eines dunklen Hinterhofes in der Altstadt von Patan, der früheren Königsstadt südöstlich von Kathmandu, lebt und wirkt der Chefastrologe des Königs. Aber auch Menschen aus der normalen Bevölkerung können zu ihm kommen. Und da es der Schicksalsgläubigkeit und auch der Tradition der Nepalesen entspricht, bei der Geburt eines Kindes ein Horoskop erstellen zu lassen, erarbeitet sich der Hofastrologe auf diese Weise ein nicht zu verachtendes Zubrot.
Allerdings ist Mangal Raj Joshi trotz der Anerkennung des Monarchen und dem zusätzlichen Salär durch seine Klienten offensichtlich ein bescheidener Mensch geblieben. Nichts in diesen beengten Wohn- und Arbeitsverhältnissen deutet darauf hin, dass jener greise Mann, der auf dem Fußboden hinter einer schlichten Holzkiste über seinen Berechnungen sitzt, ein für die Geschicke des Staates einflussreicher Mann ist.
Der alte Herr stammt aus einer Astrologendynastie und war schon als Kind in die schicksalsstiftenden Konstellationen der Gestirne eingeweiht worden. In den dreißiger Jahren hatte er in der heiligen Stadt Benares in Indien studiert, ehe er in seiner nepalesischen Heimat zum Universitätsprofessor und königlichen Astrologen aufstieg. Es gibt kaum eine politische Entscheidung die der König trifft, ohne ihn zuvor um den Blick in die Sterne zu bitten.
Schon seit Stunden brütet der Astrologe über den Horoskopen von kleinen Mädchen aus der Shakya-Kaste. Eine von ihnen, daran glaubt er fest, ist zur nächsten Kumari des Königs bestimmt. Dieser unerschütterliche Glaube lässt für den Astrologen von vornherein gar nicht erst die Möglichkeit zu, etwa alle Aspirantinnen für ungeeignet zu halten.
Seine Aufgabe ist es, ehe er sich mit seinen Kollegen im königlichen Palast endgültig beraten wird, eine astrologische Analyse zu erarbeiten. Sein Wort wird bei der Auswahl Gewicht haben, niemand wird ernsthaft an der Analyse des weisen Mannes zweifeln. Schon gar nicht die drei anderen Hofastrologen, die einst allesamt seine Schüler waren. Und so entscheidet sich in diesem Moment in einem dunklen Hinterhof in Patan das Schicksal eines kleinen Mädchens, das zu diesem Zeitpunkt noch irgendwo in Kathmandu im Kreise seiner Familie lebt.
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