Die Überraschung passierte, als Amitas Vater am zweiten Tag kurz aus dem Zimmer gerufen wurde. Als habe das Mädchen nur auf einen solchen Moment gewartet, sprach es unaufgefordert einen ganzen Satz – in Newari. Auch Yuvraj versteht die Sprache der Newar nicht, jener Ureinwohner des Kathmandu-Tales. Kalpana übersetzte ihn ins Nepali und Yuvraj ins Englische: „Sometimes in Kumari Bahal I felt an awful loneliness!“
Im ersten vollständigen Satz nach zwei Tagen gesteht sie, dass sie sich manchmal furchtbar einsam fühlte! Sofort hake ich nach. In knappen Sätzen erzählt sie leise von einem vergitterten Fenster hinter dem sie oft saß und auf die Welt hinausblickte. Und sie spricht von ihrer Sehnsucht nach Durga, die wie eine ältere Schwester mit ihr im Kumari-Haus zusammenlebte. Dann kommt der Vater ins Zimmer zurück und Amita verstummt wieder.
Jetzt war mir klar, dass das Mädchen in Gegenwart des Vaters oder anderer Familienmitglieder nicht über ihre Zeit als Kumari sprechen würde. Offensichtlich aber hatte sie andererseits das Bedürfnis danach.
Amitas Vater hat mir später erzählt, dass sie schon vier Wochen, nachdem sie Kumari geworden war, während seiner Besuche nicht mehr mit ihm sprach. Als ich Amita danach frage, erklärt sie knapp: „Ich wusste nicht, worüber wir reden sollten.“
Wie würde es mir gelingen, einen traditionsbewussten newarischen Vater davon zu überzeugen, dass er seine Tochter mit mir und meinen Mitarbeitern allein lassen soll? Ich musste mein Anliegen mit einem journalistischen Prinzip begründen, denn er durfte es nicht auf sich beziehen. Also erklärte ich, dass ich alle Gesprächspartner getrennt interviewen müsse, um möglichst authentische, unbeeinflusste Aussagen zu bekommen. Und ich verband diese Erklärung mit einem Angebot. Im Gegensatz zu Rasmilas Familie hatte er nicht nach einem Honorar gefragt. Nun aber bot ich ihm eine Summe, die es Amita ermöglichen würde, nach ihrem Schulabschluss eine Ausbildung zu machen. Fortan konnte ich mit dem Mädchen allein sprechen.
Amita blieb bei den kurzen Sätzen und Kalpana wurde offenbar ungeduldig. Bald sprach sie mehr als mein Gegenüber, und ich hegte den Verdacht, dass sie Amita Alternativantworten anbot, aus denen sie nur noch auszuwählen brauchte. Ich beschloss daher zunächst, die Arbeit mit einem Übersetzer ins Deutsche fortzusetzen, der auch Newari spricht. Yuvraj hatte dafür sofort Verständnis. Umso mehr, als er neben seiner Tätigkeit für die Kathmandu Post ohnehin genug damit zu hatte, mir den Kontakt zu den anderen Gesprächspartnern herzustellen.
Der Übersetzer, den mir das Goethe-Zentrum von Kathmandu vermittelte – ein Newar, der dort Deutsch unterrichtet –, hatte zwei Jahre in Saarbrücken gelebt. Auf der Dachterrasse meines Hotels erteilte ich dem sympathischen Jaya einen Crashkurs in Interviewtechnik, und beschwor ihn, meine Fragen möglichst kommentarlos zu übersetzen. Schon am nächsten Tag bestätigte er meinen Verdacht in Bezug auf Kalpanas „Hilfestellung“, und ich beschloss, künftig auf sie zu verzichten. Ein gewagter Schritt, denn offenbar hatte sich Amita ein wenig an Kalpanas Art der Fragestellung gewöhnt. Außerdem musste die Familie des Mädchens nun akzeptieren, dass die sechzehnjährige Tochter oft stundenlang mit zwei fremden Männern allein ist.
Amitas Zutrauen wuchs mit jedem unserer Gesprächstermine, was sicher auch damit zu tun hatte, dass wir uns auch über ganz andere Dinge unterhielten. Über indische TV-Soaps beispielsweise und über aktuelle Trends im Nepali-Pop. So erfuhr ich ganz nebenbei, dass die Cartoon-Serie Spiderman im indischen Fernsehen die Lieblingssendung der lebenden Göttin war.
Die Ex-Kumari und ihr Biograph Gerhard Haase-Hindenberg
Das Mädchen fand bald zunehmend Spaß an unseren Treffen, aber sie entwickelte ein gewisses Misstrauen gegenüber jeder Form von Methodik. Sobald sie aber das Gefühl bekam, dass wir uns nicht einfach nur unterhalten, sie vielmehr systematisch ausgefragt wird, runzelte sie die Stirn und der Mund war auf dem Sprung zur Schnute. Also erschien ich fortan ohne Manuskript, sprang in den Themen hin und her. Eines Tages machte ich ihr dann den Vorschlag, die Unterhaltung einfach mal umzukehren. Ich würde erzählen, was ich so aus unseren Gesprächen behalten hatte, und sie solle kontrollieren, ob ich auch alles richtig verstanden habe. Amita war einigermaßen überrascht, als ich ein Manuskript hervorholte und thematisch geordnet Punkt für Punkt vorlas, worüber wir in den vergangenen Wochen völlig ungeordnet gesprochen hatten. Dabei machte ihr die Rolle des „Zensors“ offenbar großen Spaß. In der Folgezeit überraschte sie mich gelegentlich sogar mit eigenen schriftlichen Aufzeichnungen, die sie für mich angefertigt hatte. Wir waren ein richtig gutes Team geworden.
Steinchen für Steinchen wurden die Informationen wie bei einem Mosaik zusammengetragen, und es entstand das Bild einer außergewöhnlichen Kindheit eines nepalesischen Mädchens, das von der Welt weitgehend isoliert als „lebende Göttin“ aufwächst. Dabei wird die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven geschildert – neben der des Mädchens und ihrer Familie, aus der ihrer jahrelangen Betreuerin im Kumari-Palast und aus dem Blickwinkel der religiösen und gesellschaftlichen Avantgarde Nepals. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Sichtweisen ist beträchtlich. Viele Hintergründe des Kumari-Kults waren Amita übrigens bis zu unsrer gemeinsamen Arbeit unbekannt. Denn natürlich hatte es niemand für nötig befunden, eine Göttin über die Hintergründe ihrer eigenen Existenz zu informieren.
Amitas Aufzeichnungen für die gemeinsame Arbeit am Buch über ihre außergewöhnliche Kindheit
Amita besiegelt mit ihrer Unterschrift den Verkauf der Exklusivrechte an ihrer Kindheitsgeschichte
Das Kumari-Fest an den Indra Jatra-Feiertagen haben zwar erst die Malla-Könige vor etwa vierhundert Jahren eingeführt, und sie haben auch das Kumari-Haus gebaut. Den Kumari-Kult aber gibt es seit es die vielarmige Göttin Durga gibt – also seit mindestens tausend Jahren.
Madhav Bhattarai Religiöser Ratgeber des derzeitigen nepalesischen Königs
Das Indra Jatra-Fest ist für eine Kumari der Höhepunkt des Jahres. Ich bin sicher, dass das auch jede Kumari so empfindet, denn man wird in einem goldenen Wagen durch die Stadt gefahren und alle Leute sind auf den Straßen und jubeln einem zu. Und das passiert auch noch an dreien der vier Festtage…
Rasmila Shakya Kumari von 1983 bis 1991, Amitas Vorgängerin
Es ist das Fest, auf dem der König bei seiner Göttin erscheinen wird. Der Oberpriester des Palastes ist zum Tempelraum der Kumari hinaufgestiegen, um das Kommen des Mousuf Sarkar („Seine Majestät“) für den letzten Tag der Indra Jatra-Feierlichkeiten anzukündigen.
Sie kennt diesen Mann dort, solange sie zurückdenken kann. Man nennt ihn Mul Purohit, und die Menschen in ihrer Umgebung haben großen Respekt vor ihm. Die Hindu-Priester aus dem Taleju-Tempel ebenso wie die Pancha Buddha-Priester, die eben noch im Agam, jenem dunklen Raum im Erdgeschoss, mit ihr gemeinsam eine Puja zelebrierten, und natürlich Durga-didi, ihre schwesterliche Freundin, die jede Nacht mit ihr im gleichen Bett schläft. Auch der Mul Purohit ist ein Priester, der Oberpriester des Königs. Und wenn er am ersten Morgen des Indra Jatra-Festes zu ihr kommt, so kündigt er den Besuch des Königs an. Vier Tage wird sie jetzt mit den Bewohnern von Kathmandu das Ende der Regenzeit feiern, dreimal wird sie in dieser Zeit auf einem goldenen Wagen durch die Stadt gefahren, und am letzten Tag kommt dann der König hierher und lässt sich durch ihren Segen für ein weiteres Jahr seine Macht bestätigen. Das alles weiß sie, die als lebende Göttin über das Königreich Nepal wacht, aus jahrelanger Erfahrung. Aber sonst weiß sie fast nichts über den Mul Purohit. Sie kennt nicht einmal seinen Namen.
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