Ramesh Prasad Pandey Mul Purohit – königlicher Oberpriester
Wenn man seine Tochter nicht als Kumari hergeben will, so ist das möglich. Aber dann darf man das Horoskop nicht aushändigen. Denn wenn die Horoskope erst mal überprüft sind und die Wahl getroffen wurde, kann man keinen Rückzieher mehr machen.
Amrit Man Shakya Amitas Vater
Sie würde nicht mitkommen in den Kumari Bahal und auch nicht in den Königspalast, um ihre Tochter dort vorzustellen. Schließlich habe sie in dieser Sache bis jetzt die Verantwortung weitgehend allein zu tragen gehabt. Er solle sich deshalb frei nehmen, um der Aufforderung des Palastes nachzukommen. Das hat sie ihrem Mann gesagt und er hat es akzeptiert. Damit war die Sache für Mimita Shakya erledigt.
Niemals zuvor hatte sie so mit Amrit gesprochen. Wollte sie auf diese Weise einem Gespräch mit ihrem Mann über Amitas Zukunft aus dem Weg gehen? Sollte so verborgen bleiben, dass hinter dem Enthusiasmus, den sie seit dem Besuch von Cousine und Schwiegermutter an den Tag legt, ein Gefühlsgeflecht von Ratlosigkeit, Sorge und Verzweiflung steckt? Oder hatte sie mit ihrer vehementen Ablehnung, gemeinsam mit Amita den Königspalast aufzusuchen, nicht vielleicht das Gegenteil beabsichtigt? Hatte sie etwa die heimliche Hoffnung, dass Amrit ihr ungewöhnliches Verhalten zum Anlass nehmen würde, um endlich mit ihr das Gespräch zu suchen?
Seit Tagen leben sie nebeneinander her, konfrontiert mit der schicksalhaften Deutung des königlichen Astrologen, und ohne ein Wort über deren Konsequenzen – nicht miteinander und schon gar nicht mit den Mädchen. Nun würde es Amrits Aufgabe sein, Amita den Zweck des gemeinsamen Besuchs im Narayanhiti Durbar, dem neuen Königspalast im modernen Teil von Kathmandu, zu erläutern.
Amrit hat seine beiden Töchter in die Wohnstube gerufen und sich dort mit ihnen auf den Fußboden gesetzt. Er hat angefangen, von der Kumari zu erzählen. Er hat erläutert, wie wichtig es ist, dass ein kleines Mädchen über das Land wacht und wie schön es für dieses Mädchen ist, von allen Menschen verehrt zu werden. Die Töchter des Amrit Man Shakya hören ihm zu, und als er an das letzte Indra Jatra-Fest erinnert, teilen sie lebhaft ihre Erinnerungen mit. Sie fallen sich gegenseitig ins Wort, sprechen von der riesigen Krone der Kumari und deren goldenen Wagen, beklagen sich, dass der König keine Krone getragen hat und sie schon so früh nach Hause mussten.
„Diese Kumari wird aber schon bald keine Kumari mehr sein“, sagt Amrit und seine Töchter sehen ihn an, als ob er den Weltuntergang verkündet hätte.
Irgendwie hat er das Gespräch falsch angefangen, geht es ihm durch den Kopf. Um eine positive Wendung hinzubekommen, ruft er ihnen zu: „Bald wird ein anderes hübsches Mädchen unsere neue Kumari!“
An den ratlosen Mienen seiner beiden Töchter kann Amrit erkennen, dass sie ihn nicht verstehen. Woher sollten sie auch wissen, dass eine Kumari nicht vom Himmel fällt, sondern ein Mädchen aus einer ganz normalen Familie ist? Eine Göttin auf Zeit.
„Die Kumari ist zwar eine Göttin. Aber sie ist auch ein Mädchen, die eine Ma und einen Baa hat. So wie ihr!“, versucht er eine Erklärung, und er ist Anita dankbar, als sie ihm mit ihrer Bemerkung fast ins Wort fällt: „Dann können wir ja auch die Kumari sein…!“
Amita springt begeistert auf, hüpft durch das ganze Zimmer und ruft: „Jaaaa, ich will eine Kumari sein!“
Anita aber lässt sich aus der Hocke nach hinten fallen und lacht.
„Du siehst ja gar nicht aus wie die Kumari!“, ruft sie. Und nachdem sie sich wieder aufgerichtet hat: „Wo ist denn überhaupt deine Krone?“
Amitas Antwort erfolgt prompt: „Ich gehe mit Ma eine kaufen!“
Amrit ruft seine jüngere Tochter zu sich und nimmt sie in den Arm.
„Du bekommst die Krone, die die Kumari am Indra Jatra-Fest getragen hat. Denn wenn sie keine Kumari mehr ist, dann braucht sie sie ja nicht mehr.“
Die beiden Mädchen sehen ihren Baa überrascht an. Auch wenn sie diese Bemerkung in ihrer ganzen Bedeutung nicht verstehen, so spüren sie offensichtlich in diesem Moment, dass dahinter keine Fantasterei steckt.
Amrit ist froh, dass es ihm fast spielerisch gelungen ist, Amita ein wenig auf ihre künftige Rolle vorzubereiten. Auch wenn es über eine verbale Ankündigung noch nicht hinausging. Während des morgigen Besuchs im Kumari Bahal wird es sicher eine Gelegenheit geben, ihr zu erklären, dass dieser Palast ihr künftiger Wohnsitz sein wird. In den nächsten Tagen wird er dann auch Anita darauf vorbereiten müssen, dass sie ihre weitere Kindheit ohne die kleine Schwester verbringen wird. Im Augenblick aber will er das Thema nicht weiter vertiefen. Es wird schließlich für alle Beteiligten noch schwer genug werden. Und Amrit ist froh, in seiner Frau eine starke Partnerin zu haben. Mit ihrer bemerkenswerten Entschlossenheit, der Göttin Taleju die eigene Tochter zur Verfügung zu stellen, hatte sie schnell seine anfänglichen, unausgesprochenen Zweifel zerstreut.
*
Der Wohnsitz der Mädchengöttin ist alles andere als ein prunkvoller Palast. Es gibt in unmittelbarer Nähe des Kumari Bahal weitaus imposantere Bauwerke als diesen quadratischen zweistöckigen Ziegelbau, den König Jaya Prakash Malla vor zwei Jahrhunderten für seine Hausgöttin errichten ließ. Wer um die Besonderheit dieses Bauwerks nicht weiß, muss schon einen Sinn für die newarischen Holzschnitzereien haben, mit denen die Fenster und das schmale Eingangstor umrahmt sind, um das Gebäude interessant zu finden. Touristen richten ihre Kameras eher auf die drei gewaltigen Pagodentempel auf dem Durbar-Platz oder auf den schneeweißen alten Königspalast, der nach Hanuman, dem Affengott, Hanuman Dhoka benannt ist. Selbst die beiden steinernen Löwen vor dem Eingang des Kumari Bahal werden von kunstinteressierten Besuchern wegen ihrer braunen Mähnen und den pinkfarbenen Brüsten bestenfalls als kitischige Kopien jener Löwenskulpturen vor dem Shiva-Parvati-Tempel am nördlichen Durbar-Platz wahrgenommen.
Besucher, die dennoch den Weg in den Innenhof des Kumari Bahal finden, wundern sich, dass das Haus der lebenden Göttin weniger ein feudales Refugium, als vielmehr ein von Taubenkot verdrecktes, dunkles Gebäude ist. Im obersten Stockwerk, neben jenem großen Fenster, hinter dem der rote Baldachin über dem Thron zu erkennen ist, sitzt meist ein grauhaariger, älterer Herr mit einer großen Brille. Eigentlich ist er lediglich der Ehemann der Chitaidar und für viele innerhalb der konservativen Priesterschaft schon deshalb ein personifiziertes Ärgernis. Traditionell nämlich wurden die Mädchengöttinnen ausschließlich von unverheirateten Frauen betreut, die ihnen rund um die Uhr zu Diensten waren. Die Mutter des grauhaarigen Herrn mit der großen Brille aber, die das Amt einst als Witwe übernommen hatte, war die letzte unverheiratete Chitaidar. Sie lebte mit dem minderjährigen Sohn im Kumari Bahal, und als dieser später heiratete, blieb er mit seiner Frau einfach dort wohnen. Schließlich machte das Kumari-Komitee die Schwiegertochter der greisen Chitaidar zu deren Nachfolgerin. Die Pragmatiker hatten sich gegen die Traditionalisten durchgesetzt. Ihrem Argument, dass nämlich die künftigen Kinder der noch jungen Chitaidar einmal ideale Spielkameraden für die Kumari sein würden, konnte man nur schwer mit dem Anspruch nach spiritueller Reinheit für das göttliche Refugium begegnen.
Mittlerweile leben drei Generationen der Chitaidar-Familie im Kumari Bahal. Das Sagen aber hatte zu keinem Zeitpunkt die Chitaidar, sondern deren Mann, weshalb die Priesterschaft schon bald begann, ihn abfällig als Chitaidar zu bezeichnen. Der grauhaarige Herr mit der großen Brille aber lässt es sich gern gefallen, dass mittlerweile kaum noch jemand seine Frau, sondern alle ihn „den Chitaidar“ nennen. Beschreibt das doch die wahren Machtverhältnisse im Haus der lebenden Göttin. Er thront auf seinem Platz neben dem Kumari-Fenster, von wo aus er das Geschehen innerhalb und außerhalb des Gebäudes argwöhnisch beobachtet.
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