Ich habe mich schon etwas herausgeputzt am Samstag. Denn Klaus Dieter sollte schon sehen, welche attraktive Chance er sich beinahe verscherzt hätte. Es war dann auch ganz passend, dass ich mein weißes Konfirmationskleid angezogen hatte, denn Klaus Dieter kam ebenfalls in seinem Konfirmationsanzug. Zu meiner Überraschung trug er ein großes dunkelblaues Badetuch unter dem Arm. Auf meine Frage, was er damit wolle, sagte er: „Der Boden in der Kirche ist schmutzig und mein Anzug würde verdreckt, wenn ich mich ohne Badetuch auf den Boden lege.“ „Meinetwegen musst Du dich nicht auf den Boden legen“, entgegnete ich. „Mir genügt es, wenn Du mir vor Gott versprichst, mir nicht mehr untreu zu werden!“ „Nein“, antwortete Klaus Dieter hierauf, „die Zeremonie soll auch einen starken Zauber ausüben, dass ich nicht mehr schwach werde, wenn die Ulla mich wieder küssen will! Und das geht nur mit der ganzen Zeremonie!“ „Also gut“, habe ich nachgegeben, „gehen wir in die Taufkapelle, da sieht uns keiner, wenn jemand doch unvorhergesehen in die Kirche kommt!“
Wir sind dann in die Taufkapelle gegangen. Klaus Dieter hat sein Badetuch vor dem Taufbecken ausgerollt und hat sich dann mit einem Bauchfletscher darauf geschmissen. In diesem Augenblick donnerte, wie von Geisterhand gespielt, die Orgel mit dem „Dies Irae“, so dass wir beide uns tödlich erschraken. Klaus Dieter breitete darauf seine Arme nach vorne aus und schlug mit der Stirn dreimal auf den Boden.
„Vergib mir, Herr“, bat er, und an mich gewandt, sagte er „verzeih mir, mein Posaunenengel! Hast Du die Musik bestellt?“ „Nein“, antwortete ich, „der Organist wird üben! Jetzt musst Du aber noch beichten, was der Herr dir vergeben soll und was ich dir verzeihen soll“, fügte ich an. „Meine Sünden, Herr“, redete Klaus Dieter weiter, „ich bereue sie von ganzem Herzen, vor allem die Zungenküsse, die ich Ulla gegeben habe. Ich will so etwas auch nicht wieder tun!“ „Moment mal“, bin ich dazwischen gefahren. „Mir kannst Du doch noch Zungenküsse geben. Ich bin doch deine zukünftige Frau!“ „Kein Mädchen kriegt von mir einen Zungenkuss mehr bis auf meine zukünftige Frau“, fuhr Klaus Dieter fort.
„Kannst Du mir verzeihen, liebe Betty, dass ich Ulla geküsst habe?“ wandte er sich dann an mich. „Ich verzeihe dir, aber nur dieses einzige Mal!“ antwortete ich, „ wenn Du mir versprichst, mir in Zukunft treu zu sein und keine anderen Geliebten mehr zu haben!“
„Das verspreche ich dir von ganzem Herzen. Nie mehr will ich eine andere Frau begehrlich ansehen noch sie mit der Hand, dem Fuß, den Lippen oder mit der Zunge zärtlich berühren! Das schwöre ich dir vor Gott und seiner Ewigkeit!“ „Dann steh auf und gib mir einen Kuss!“ sagte ich. „Damit unsere Versöhnung und unser Bund vor Gott und der Welt ein für alle Mal besiegelt sind!“ „Sind wir jetzt ein Paar?“ wollte Klaus Dieter wissen. „Fast“, habe ich geantwortet, „Du musst natürlich im Falle, dass es mit meinem väterlichen Erbe nicht klappt, die Familie mit allem gut versorgen können!
Also kein Feierdasein als Arbeitsloser! Keine nicht beheizbare Schrebergartenlaube als Wohnung, keinen Bollerwagen als Fahrzeug, keine Steckrübensuppe als tägliche Mahlzeit, keine abgelegten Lumpen aus dem Müllcontainer als Kleidung! Sondern tägliche Arbeit, ein hoher Verdienst, gesellschaftlicher Umgang, einfache Feiern mit Tanz und Gesang, Nachdenken über den Sinn des Lebens, Lektüre von wertvollen Büchern, Teilnahme am kulturellen Leben, Begeisterung für alles Schöne, vertrauensvolle Freundschaften, Ausübung von Sport und Spiel, weite Reisen und viel Musik, meinetwegen mit deiner Band, aber ganz sicher mit mir als Leadsängerin. Denn das sind die wesentlichen Dinge im Leben, die möchte ich nicht vermissen!“
Klaus Dieter lag immer noch am Boden. Jetzt erhob er sich auf die Knie und fügte die Hände in meine Richtung fast anbetend zusammen, indem er sagte: „Mein angebeteter Engel, wie sprichst Du mir aus dem Herzen! Schon lange habe ich mir gewünscht, dass Du unsere Leadsängerin wirst, aber habe mich nicht getraut, dich darum zu bitten. Und jetzt sprichst Du selber diesen Wunsch aus. Keine Sekunde länger wird Ulla mehr Mitglied in meiner Band sein! Ich habe viele günstige Kaufangebote für sie und werde sie zum Höchstpreis verkaufen. Das wird mein erstes großes Geschäft und ihm werden noch viele weitere große Geschäfte folgen. Sei unbesorgt! Ich werde ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann werden und dir die Welt zu Füßen legen!“ „Dann steh endlich auf und gib mir einen Kuss. Alles Störende, was zwischen uns lag, ist jetzt vorbei. Wir sind wieder eins!“ sagte ich hierauf.
Schon wollte Klaus Dieter sich erheben, da gab es ein gewaltiges Gedröhn in der Kirche. Es war, als ob alle zweitausendfünfhundert Pfeifen der Orgel zugleich ertönten und tosender Sturm diesen Donnerhall begleitete. Und über diesen Geräuschorkan erhob sich eine fürchterliche Stimme und donnerte uns an: „Ihr Küken, ihr vorwitzigen Eierschalenschlüpfer, was maßt ihr euch an, die Reihenfolge der Lebenszeitalter durcheinander zu bringen! Ihr steht noch nicht einmal auf eigenen Füßen und wollt schon Erwachsene sein! Ihr könnt nicht einmal Liebe und Sexualität auseinanderhalten und wollt schon ein Paar sein! Ihr seid nicht einmal mündig und wollt schon Geschäfte machen und dazu noch Menschen verkaufen! Ihr wollt leugnen, dass ihr noch Kinder seid und mit Erfolg und Lebensfreude nur das tun könnt, was Kindern möglich und bekömmlich ist.
Lernen und spielen sollt ihr, eure Eltern und Regeln beachten und mit Natur und Gesellschaft in Frieden leben. Dann könnt ihr unbeschwert, gesund und glücklich aufwachsen und tüchtige Erwachsene werden. Ansonsten werden euch die Dinge über den Kopf wachsen und ihr werdet von ihrem Gewicht so erdrückt, dass ihr schwere Schäden an Leib und Seele nehmt!“
Obwohl Klaus Dieter und ich uns sagen mussten, dass der Urheber von diesem Getöse nur der Organist oder der Pfarrer sein konnte, hatten wir beide Angst. Und ich hörte mich tatsächlich sprechen und diese Angst bekennen. Ich sagte: „Ich habe Angst!“ und stellte dann die Frage: „Bist Du Gott?“ Und die Stimme antwortete mir: „Fürchte dich nicht! Ich bin nur die Stimme Gottes!“ „Kann ich mit dir reden?“ fragte ich mir ein Herz fassend weiter. „Dafür bin ich hier!“ antwortete die Stimme. „Haben Sie uns gemeint mit den Kindern, die schon Erwachsene sein wollen?“ fragte ich weiter. „Ich habe alle Kinder gemeint, die Erwachsene sein wollen – auch euch“, antwortete die Stimme.
„Darf ich erklären, warum wir unser Leben in die eigene Hand nehmen wollen?“ fragte ich weiter. „Gerne, ich bin nämlich im Widerspruch zu den Lehren der Theologen nicht allwissend!“ erwiderte die Stimme. Darauf erklärte ich: „Es ist eine Frage des fehlenden Vertrauens und der fehlenden Nähe!“ „Zu wem könnt Ihr kein Vertrauen haben?“ fragte die Stimme weiter. „Zu allen“, antwortete ich. „Mein Vater hat uns im Stich gelassen, als ich noch ein kleines Kind war. Meine Mutter hat die ganze Zeit nur über den Verlust getrauert und sich selbst bemitleidet. Wir Kinder konnten ihr nicht genug sein. Sie hat uns dauernd in die Rolle von prominenten Kindern gedrängt. Wir mussten die schönsten, die intelligentesten, die wohlerzogensten, die am besten gekleideten Kinder sein, die es im Kindergarten und in der Schule gab. Dabei hatten wir weder das Geld noch die Fähigkeiten, um diese Rolle zu spielen und haben uns dauernd lächerlich gemacht. Alle haben uns ausgelacht! Und weder unsere Mutter noch unser Vater haben uns geholfen und zu einem normalen Verhalten angeleitet. Wir mussten uns selber helfen und richtige Lösungen für unsere Probleme finden! Auch Du hast uns nicht geholfen. Du warst nie da, wenn wir dich gerufen haben.“
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