1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 So ist auch Alijoscha nicht angekommen, selbst wenn er seinen Platz bei den Zigeunern, den Zirkusleuten, den Gauklern hat.
Er muss keine Entfremdung bei seiner Arbeit erfahren wie Gregor Samsa, der Protagonist in Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“, ( Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999). Dieser war „Handlungsreisender“, ein Vertreter in der Textilbranche und funktionierte als Fremdbestimmter, der weder eine Freundin hatte, noch jemals Sexualität gelebt hatte und der in einem öden Alltagstrott die kleine Familie ernährte, die nicht seine war, sondern seine Herkunftsfamilie, sozusagen die Familie seines Vaters, der sie eigentlich hätte ernähren müssen. Da Gregor Samsa so entfremdet war von sich selbst und seinen Talenten, von denen er nicht einmal wusste, dass sie überhaupt existierten, verwandelte er sich in ein „Ungeziefer“, in einen Käfer, der nicht mehr lebensfähig war und der sterben musste, damit er seine Familie in ihrem entfremdeten Dasein als Kleinfamilie nicht störte.
Dies alles ist bei Alijoscha, dem Magier anders als bei Gregor Samsa.
Der junge Magier erfährt sich selbst, lebt seine Sexualität aus und wird bewundert und nicht erniedrigt wie Gregor Samsa. Alijoscha kann allerdings mit seiner Energie, mit seinen Kräften noch nicht wirklich haushalten. Er erlebt sich selbst mit seiner Attraktivität auf zweierlei Ebenen. Die eine ist sein Sich-Selbst-Erfahren als großartiger Künstler und die andere Ebene ist, dass er seine Attraktionen, die er durch seine Darstellungen bietet, durch die anderen Menschen widergespiegelt bekommt, besonders durch die Bewunderung durch das andere Geschlecht. Die Frauen sind fasziniert von ihm, sie bestaunen ihn und geben sich ihm hin. Doch das macht ihn nicht wirklich glücklich. Obwohl er es im Vergleich zu den anderen jungen Männern, die nicht verheiratet waren, gut hatte. Denn jene fühlten sich einsam und mussten Schnaps trinken, weil sie nicht diese Wirkung auf Frauen hatten wie Alijoscha und so mussten sie ihre Sehnsucht nach dem anderen Geschlecht in ihre alten Blechtassen hineinsingen.
Alijoscha lebt zwar seine Sexualität aus, ist aber noch nicht in der Lage zu lieben. Er braucht die weibliche Energie und missbraucht sie zugleich, da die Frauen für ihn sogar „auf den Strich“ gehen. Sie tun es, weil sie sich ihm so ergeben fühlen und Alijoscha lässt es zu und nimmt es in Anspruch. Der männliche Seelenaspekt ist sehr wohl ausgeprägt, aber er kann nicht ausgeglichen oder in Harmonie sein, da der weibliche Aspekt noch nicht entwickelt ist. Die Frauen haben noch kein wirkliches Selbstbewusstsein, sie lassen sich missbrauchen und stellen keinen gleichberechtigten Part für das männliche Potential dar, das Alijoscha verkörpert. Deshalb ist Alijoscha auch der Liebe noch nicht fähig, da es dazu des selbstbewussten und gleichberechtigten Parts bedarf. Er sehnt sich zwar danach und verausgabt sich immer mehr mit seinen Künsten, so dass er zusammenbricht, aber eine wirkliche Liebespartnerin ist noch nicht da. Die Frau, die an seinem Bett sitzt wäre vielleicht die „Richtige“, aber sie kann noch nicht bei ihm bleiben, denn er muss noch lernen mit seiner Kraft umzugehen und die Frau ist auch noch nicht so weit. Ihr Selbstbewusstsein muss noch wachsen, aber sie erweckt in ihm die starke Sehnsucht nach einer einzigen Frau, die er lieben kann, auch wenn ihm das noch nicht bewusst ist. Er lässt ab von den anderen Frauen und von seinen ausschweifenden Kunstdarbietungen und lernt ganz neue Talente in sich kennen, er singt und spielt ein Instrument und eines Tages wird er bereit sein für eine Frau, die er liebt und die ihn liebt.
Tatsächlich ist das, was wir als Zigeunerleben so verherrlichen, nur eine Sehnsucht, ein Symbol für unsere Sehnsucht nach Freiheit, nach echtem Leben, nach Ursprünglichkeit. In unserer heutigen Zeit haftet dem Zigeunerleben zwar immer noch etwas Romantisches an, aber in Wirklichkeit sieht es etwas anders aus. Die Freiheit von einem Staat, von Regeln und Konventionen unabhängig zu sein, und einen festen Platz innerhalb einer großen Lebensgemeinschaft zu haben, ist schwer erarbeitet und erkauft. Diesen festen Platz gibt es in unserer hoch technisierten und globalisierten Welt nirgends mehr. Es gibt nicht genügend Arbeitsplätze für Jugendliche und Erwachsene. Viele Berufe gibt es nicht mehr, da sie durch technische Errungenschaften ersetzt worden sind. Alles ist in einem schnellen Wandel begriffen und der Mensch leidet unter einem Identitätsverlust. Bei den Sinti und Roma scheint es anders zu sein, hier gibt es noch feste Plätze für jeden der Familienangehörigen, der Sippe. Aber dennoch ist der Preis dafür auch hoch. Um überleben zu können, mussten und müssen sich die Zigeuner als Zirkusleute, als Artisten und fliegende Händler ernähren. Dazu gehört es leider auch, dass die Frauen teilweise zur Prostitution gezwungen werden. Dies zeigen authentische Filme mit echten Zigeunern in z. B. Rumänien gedreht, wie u. a. der Film „Time of the Gipsies“ („Die Zeit der Zigeuner“ Jugoslawischer Spielfilm von Emir Kustorica 1988)
Die Männliche und Weibliche Energie sind hier noch im Streit miteinander und keineswegs ausgeglichen. Deshalb stellt auch das „fahrende Volk“ keinen Ort des Angekommenseins dar. Dennoch können wir viel von dem „fahrenden Volk“, den Sinti und Roma lernen … Allerdings geht die Suche weiter…
3. Kapitel Die verhängnisvolle Entscheidung zwischen Sinnlichkeit und dem geistigen Ursprung oder: Die Angst vor dem Ausleben von Lust als Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, nach dem Universellen
Die verblendete Seherin
Der zweifelnde Mönch
Sich entscheiden heißt nicht „entweder oder“, sondern „sowohl als auch“.
Nichts ist so wichtig und gleichzeitig so problematisch für den zivilisierten Menschen wie die Sexualität. Das trifft besonders auch für den Menschen zu, der in der globalisierten Welt der technischen Errungenschaften und des Fortschritts lebt.
Eine unvermittelt unverkrampfte Einstellung zur Sexualität hat die Trennung von Natur und Geist, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelt hat, bis heute verhindert.
Bei Naturvölkern hat es zwar eine entsprechend naturgemäße Einstellung zur Sexualität, zum Geschlechtsakt gegeben. Jedoch diente dieser vor allem der Fortpflanzung, dem obersten Gesetz der Natur: „Der Erhaltung der Art“.
Gelebte Sexualität aus reinem Lustempfinden heraus war wohl während der gesamten Menschheitsgeschichte bis einschließlich heute nicht unproblematisch, besonders für die Frau, die als Konsequenz in der Regel schwanger wurde. Und so war sexuelles Lustempfinden besonders für die Frauen auf unbewusster Ebene immer durch eine Urangst begleitet und entsprechend gedämpft.
Der Entdecker der Tiefenpsychologie, Sigmund Freud (1856-1939) beschreibt in seinem Buch „ Das Unbehagen in der Kultur“ (...“ und andere kulturtheoretische Schriften “, Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main, 1994), dass der Mensch in der Zeit der „Jäger und Sammler“ eine freie Sexualität lebte, die nicht reglementiert war. Erst als die Menschen sesshaft wurden, taten sie sich zu Familien, zu Sippen zusammen, um sich so besser und stärker behaupten zu können. Nach Freud fing zu dieser Zeit das Dilemma des Menschen an, denn es war jetzt notwendig, Regeln aufzustellen, um zusammenleben zu können. Mit diesen und den größer werdenden Lebensgemeinschaften zusammen entwickelte sich die Kultur, die nach Freud auch dem modernen Menschen Unbehagen bereitet. Der Inzest war in diesen Urgesellschaften teilweise noch üblich und in einigen Kulturen ist Bruder- und Schwesterliebe, wie sie es u. a. auch z. B. im alten Ägypten gegeben hatte (Cleopatra und ihr Bruder), heutzutage immer noch erlaubt. Worin besteht nun dieses Unbehagen in der Kultur, von dem Freud spricht? Es ist das Domestizierte der wilden ursprünglichen Energie, der Sexualenergie, das einerseits für ein gesellschaftliches Leben notwendig ist, gleichzeitig allerdings immer mit einer gewissen Unterdrückung des Natürlichen verbunden ist. Hier das richtige Maß hinzubekommen zwischen natürlicher Triebhaftigkeit und gesellschaftlichen Regeln, Menschenrechten, Menschenpflichten, Gesetzen und Konventionen ist bis zum heutigen Tage ein weltweites Thema. Freuds (Wieder-) Entdeckung der Sexualität als einen natürlichen Trieb, der den Menschen seit seiner Geburt bereits begleitet und seine Lebensenergie schlechthin darstellt, hat seit dem Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Menschheit tiefgehend beeindruckt, beeinflusst und bis ins 21. Jahrhundert verändert. Jedoch ist diese Spaltung in Natur- und Kulturmensch geblieben, und es ist die Aufgabe des Menschen diese Spaltung von z. B. Sexualität und gesellschaftlichen Normen zu überwinden. Das ist besonders schwierig, denn in den letzten zwei Jahrtausenden entwickelten sich durch die christliche Kirche und durch die Anfänge der westlichen Philosophie sowie durch die Entwicklung und Vormachtstellung der Naturwissenschaften gegenüber den Geisteswissenschaften eine dualistische Weltanschauung, die die Trennung von Körper und Geist bedeutete. Dies hat zur Folge, dass der Mensch eine Abspaltung von sich selbst erfährt. Das folgende Märchen zeigt am Beispiel einer jungen Frau, die sich in dem Dilemma befindet, sich entscheiden zu müssen zwischen zwei Lebensmöglichkeiten, die sich einander auszuschließen scheinen. Jedoch kann sich der Mensch gar nicht zwischen zwei Lebensbereichen entscheiden, die ursprünglich zusammengehören. Sinnenfreude, Muttersein und Spiritualität schließen einander nicht aus, sondern gehören zusammen. Das kann die Protagonistin in dem folgenden Märchen noch nicht erfahren.
Читать дальше