Jetzt näherten sie sich dem Tatort im südöstlichen hinteren Eck des Schlossgartens. Er war bereits weiträumig abgesperrt. Das wäre kaum notwendig gewesen. Denn der Park war noch fast menschenleer und nur ein paar vereinzelte Schaulustige standen am Absperrband, um Genaueres sehen zu können. Martina Lange parkte den Wagen etwas entfernt vom Geschehen. Die letzten Meter gingen sie zu Fuß in der noch sehr kühlen morgendlichen Herbstluft. Dabei scheuchten sie einen Schwarm schwarzer Krähen auf, die mit lautem Krächzen aufflogen, ein paarmal tief über ihnen kreisten, einen großen Bogen über den Tatort, die Scheffelterrasse, zum Schloss hin zogen und sich zum größten Teil auf den Resten des obersten Stockwerks des gesprengten Pulverturms niederließen.
„Todesvögel, so nannte man sie früher. Es ist schon merkwürdig, dass die uns hier empfangen“, meinte Travniczek nachdenklich, während er sich mit seiner Kollegin unter der Absperrung hindurch duckte. Sofort kam ihnen ein uniformierter Beamter entgegengelaufen und rief ihnen in scharfem Ton zu: „Sie können hier nicht einfach reingehen! Bitte sofort hinter die Absperrung zurück!“
Sie blieben etwas verdutzt stehen und Travniczek sprach den Uniformierten ruhig und freundlich gelassen an: „Guten Morgen, Herr Kollege, ich habe hier beruflich zu tun. Joseph Travniczek mein Name, Leiter der Mordkommission, meine Kollegin Lange. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Oh, entschuldigen Sie vielmals“, entgegnete der Uniformierte verlegen und wurde rot im Gesicht. „Ich hatte mit dem alten Bamberger gerechnet. Ich bin Polizeimeister Gerhard Metz.“
„Mit Bamberger ist nicht mehr zu rechnen. Der hat sich in den wohlverdienten Ruhestand zurückgezogen. In Zukunft müssen Sie mit mir vorliebnehmen.“
„Freut mich, Sie kennenzulernen.“
„Ganz meinerseits“, antwortete Travniczek. „Waren Sie der Erste am Tatort?“
„Ja, mit meiner Kollegin Annette Abramczik. Ein morgendlicher Jogger hat die Leiche gefunden, die 110 angerufen und wir wurden dann hierher geschickt.“
„Und wie ist die Lage?“
„Männliche Leiche, wohl zwischen vierzig und fünfzig, lag im Vater-Rhein-Brunnen, man hat ihm offenbar den Schädel eingeschlagen.“
„Ist schon jemand von den Kollegen da?
„Ja, Dr. Melchior, der Gerichtsmediziner und Breithaupt mit einigen Kollegen von der Spurensicherung.“
„Und der Finder der Leiche?“
„Sitzt in der Nähe des Tatorts. Ist wohl völlig fertig. Er meinte, er habe noch nie einen Toten gesehen.“
„Dann sehen wir uns die Sache doch an.“
Sie näherten sich mit schnellen Schritten dem Tatort. Die Leiche war nur zur Hälfte bedeckt. Ein sehr großer, hagerer Mann mit Vollglatze und kleinen runden Brillengläsern kniete neben ihr und untersuchte sie. Martina Lange stieß Travniczek von der Seite an und deutete auf diesen Mann: „Das ist Dr. Melchior, der Gerichtsmediziner, mit dem wir meistens zusammenarbeiten. Fachlich absolut kompetent, aber im Umgang oft schwierig, vor allem, seit er vor zwei Jahren an Krebs erkrankt ist.“
„Er wird mich schon nicht fressen.“ Travniczek näherte sich vorsichtig dem Doktor, beugte sich zu ihm hinunter und sprach ihn mit leiser, aber freundlicher Stimme an: „Dr. Melchior?“
„Ich kenne Sie nicht. Was wollen Sie? Sie sehen doch, dass ich arbeite.“
„Entschuldigen Sie vielmals. Ich bin Hauptkommissar Joseph Travniczek und leite seit heute die Mordkommission. Gut, dass wir uns so schnell kennenlernen.“
„O. k., das wäre erledigt. Wollen Sie sonst noch etwas?“
„Wenn es nicht zu viel verlangt ist: Können Sie schon etwas über Todesursache und Todeszeitpunkt sagen?“
„Die Todesursache sieht doch jedes Kind. Diesem Herrn hat jemand den Schädel eingeschlagen. Der Todeszeitpunkt ist vor der Obduktion nur sehr vage anzugeben.“
„Und das wäre?“
„Zwischen 22 und 2 Uhr. Mehr kann ich jetzt noch nicht sagen.“
„Und wann kann ich mit Ihrem Bericht rechnen?“
„Morgen früh.“
„Früher geht nicht?“
„Ich kann auch nur arbeiten.“
„Natürlich! Aber wäre wenigstens der genaue Todeszeitpunkt früher zu ermitteln? Das ist für uns die wichtigste Information.“
„Ihr Polizisten seid elende Quälgeister. Gute Arbeit braucht ihre Zeit. Ich will sehen, was sich machen lässt. Versprechen kann ich aber nichts.“
„Ich danke für Ihre Mühe im Voraus.“
Travniczeks Blick blieb noch eine Weile auf den Toten gerichtet. Der Kontrast zwischen dem ausgesprochen schönen, leicht femininen Gesicht und der klaffenden Hirnschale war erschütternd. An seine Kollegin gewandt, sagte er leise mit resignierter Stimme: „Ich weiß nicht, ich bin schon ziemlich lange in diesem Geschäft, aber gewöhnen kann ich mich an solche Bilder wohl nie. Wie geht es Ihnen dabei?“
Martina Lange schüttelte nur stumm den Kopf. Auch sie hatte der Anblick des Getöteten tief getroffen. Es fiel ihr schwer zu sprechen.
„Wissen Sie“, fuhr Travniczek fort. „Je länger ich mich mit dem Phänomen Mord beschäftige, je mehr Mordopfer, teilweise grauenhaft zugerichtet, ich gesehen habe, umso entscheidender wird für mich die Frage: Wie unendlich viel muss in der Seele eines Menschen zerstört worden sein, damit er zu so einer Tat fähig wird? Haben wir es nicht letztlich nur mit Opfern zu tun? Kein Kind wird als Mörder geboren.“
Er riss seinen Blick von dem Getöteten los und wandte sich wieder an seine Kollegin: „Lassen wir besser das Philosophieren und machen uns an die Arbeit. Befragen Sie doch den Finder der Leiche. Ich mache mich in der Zwischenzeit über die Spurenlage schlau. Wer hier ist Breithaupt?“
„Der kleine Dicke dort am Brunnen“, entgegnete Martina Lange und machte sich auf die Suche nach dem Jogger.
Breithaupt war gerade im Gespräch mit zweien seiner Mitarbeiter. Travniczek trat von hinten an ihn heran und tippte ihm leicht auf die Schulter. Schneller, als man es bei seiner Körperfülle erwartet hätte, drehte der sich um und rief: „Oh, haben Sie mich erschreckt! Ich dachte schon, die Leiche sei von den Toten auferstanden und wollte mich umarmen. Aber wer sind Sie und was wollen Sie?“
„Travniczek, Joseph, Hauptkommissar. Ich führe die Ermittlungen, nachdem ich vor etwa einer Stunde die Leitung der hiesigen Mordkommission übernommen habe.“
„Ja, richtig. Der alte Bamberger ist ja in Pension gegangen. Schade, das war ein doller Kerl, kann ich Ihnen sagen. Wenn wir mal nach Dienstschluss im Goldenen Hecht gelandet waren, hat er uns alle unter den Tisch gesoffen. Da treten Sie ein schweres Erbe an.“
„Was das betrifft, mache ich mir keine Sorgen, auf diesem Gebiet habe ich keinerlei Ambitionen, mit Bamberger zu konkurrieren. Aber erst einmal zu diesem Fall. Was können Sie jetzt schon zur Spurenlage sagen?“
„Sie haben ja wirklich Pech – oder ist es vielleicht Glück –, dass Sie zu Ihrem Start hier gleich so einen heftigen Fall aufgeladen bekommen. Also, wir haben bis jetzt schon Folgendes. Der Täter hat das Opfer zwischen der Grotte dort und dem Brunnen offenbar von hinten mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Tatwaffe – bis jetzt Fehlanzeige. Er hat ihn dann in den Brunnen gezogen und versucht, das Blut auf dem Boden mit Kies zu bedecken, aber völlig unzureichend, so dass sofort klar war, wo die Tat geschehen ist. Was haben wir bei dem Opfer gefunden? Leider nichts, was auf seine Identität hinweist. Er hatte nur ein Schlüsselbund und – wohl gemerkt – eine Pistole bei sich, eine Sportwaffe. Zwischen Tatort und Fundort der Leiche im Brunnen lag ein merkwürdiges Elektronikteil. Irgendwie selbstgebastelt. Ist mir noch nicht ganz klar, wofür es gut ist. Es dürfte irgendetwas mit einem Sender zu tun haben. Müssen wir erst im Labor genau untersuchen. Mehr haben wir leider noch nicht.“
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