„Ja, ja, wir sind ja schon am Punkt“, setzte Meyer-Hampel seine Ausführungen fort, unterbrach sich aber noch einmal, um einen weiteren genüsslichen Schluck aus dem Wasserglas zu nehmen. Inzwischen war auch Kommissarin Lange der eigenartige Gesichtsausdruck ihres Gastes aufgefallen. Irgendetwas schien auch ihr nicht zu stimmen.
„Also“, fuhr Meyer-Hampel endlich fort, „gestern Abend, nachdem wir einen sehr unterhaltsamen Tag in Heidelberg verbracht hatten, nach einigen Gläsern köstlichen Pfälzer Rotweins, sagte mein Klassenkamerad ziemlich überraschend, er wolle noch vor dem Schlafengehen kurz an die Luft. Und dann, Sie werden es nicht glauben, kam er einfach nicht wieder, blieb verschwunden.“
„Aber dann“, unterbrach ihn Brombach, „sind Sie bei uns völlig falsch. Ich nehme an, Sie wollen eine Vermisstenanzeige aufgeben, aber dafür sind andere zuständig. Wir sind die Mordkommission und geben uns mit solchen Lappalien nicht ab.“
„Nein, nein, von wegen Lappalie. Wissen Sie, ich kenne meinen alten Schulkameraden gut genug, um sicher, vollkommen sicher zu sein, dass hier etwas Schlimmes passiert sein muss. Und ich habe schon Erkundigungen eingezogen. Ein Unfall mit Personenschaden ist gestern Abend, nachdem er mich verlassen hat, nicht geschehen. Er muss, verstehen Sie, er muss einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein.“
Brombach blickte zu seiner Kollegin Lange, sah sie fragend an und sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Zu Meyer-Hampel gewandt, sagte Brombach: „Also, wissen Sie, ich verstehe ja Ihre Aufregung. Aber sie ist wahrscheinlich völlig unbegründet. In den meisten Fällen, bei denen wir hören, jemand müsse umgebracht worden sein, taucht derjenige kurze Zeit später kerngesund wieder auf, und für die ganze Geschichte gibt es irgendeine völlig banale Erklärung. Also, ich würde Ihnen jetzt raten, gehen Sie in Ihr Hotel zurück und warten Sie noch bis mindestens heute Abend, Ihr Schulfreund wird mit ziemlicher Sicherheit wieder auftauchen. Aber wenn Sie ihn unbedingt jetzt schon als vermisst melden wollen, begeben Sie sich bitte einen Stock tiefer in Raum 141, dort finden Sie einen dafür zuständigen Kollegen. Ich betrachte unser Gespräch jetzt als beendet. Wir haben hier wahrlich jede Menge zu tun und können uns mit dieser Angelegenheit nicht weiter befassen.“
Herr Meyer-Hampel erhob sich und nahm plötzlich eine völlig andere, sehr selbstbewusst wirkende Körperhaltung an, sein Blick wurde durchdringend und er fuhr Brombach mit einer auf einmal sehr kräftigen, sonoren Stimme an: „So geht das nicht, Herr Kommissar! Ich lasse mich von Ihnen nicht wie einen dummen Jungen abweisen. Ich bin sicher, dass hier ein Verbrechen geschehen ist, und ich bestehe darauf, dass Sie in der Sache aktiv werden.“
Brombach und Martina Lange sahen sich verdutzt an. Diese Wendung kam überraschend. Allerdings war bei der Kommissarin der Verdacht, dass dieser Besucher irgendein merkwürdiges Spiel mit ihnen trieb, in den letzten Minuten immer größer geworden. Ohne Brombach zu fragen, ergriff sie daher die Initiative.
„Also, Herr Meyer-Hampel, jetzt regen Sie sich bitte nicht zu sehr auf. Wenn Sie sich Ihrer Sache so sicher sind, können wir Folgendes tun. Wir nehmen Ihre Aussage zu Protokoll und sehen dann, was wir unternehmen können. – Folgen Sie mir bitte zu meinem Schreibtisch!“
Meyer-Hampel folgte ihr, nahm unaufgefordert neben ihrem Schreibtisch Platz, verschränkte die Arme vor der Brust, schlug die Beine übereinander und blickte überlegen lächelnd, aber doch freundlich in die Runde.
Martina Lange wandte sich wieder an ihn: „Sie müssen sich noch einen Moment gedulden, bis der Computer hochgefahren ist.“
Im Hintergrund flüsterte Brombach zu Siebert: „So ein komischer Kauz ist mir noch nie vorgekommen. Irgendwie kann ich mir da keinen rechten Reim drauf machen. Auf jeden Fall bin ich froh, dass der neue Chef nicht ausgerechnet während dieses Gesprächs hereingekommen ist.“
„Warten wir’s ab“, entgegnete Frau Siebert wissend lächelnd, „ich hab da so einen ganz bestimmten Verdacht.“
„Was meinst du?“
„Abwarten!“
Inzwischen war der Computer auf Martina Langes Schreibtisch startklar. Sie wandte sich betont freundlich an Meyer-Hampel: „Also, Herr Meyer-Hampel. Wir wären so weit, Sie können loslegen. Vielleicht zuerst die technischen Dinge. Geben Sie mir bitte Name und Adresse des Vermissten!“
„Sein Name ist Joseph Travniczek.“
„Wie bitte?“, fragte Martina Lange etwas verwirrt, während Melissa Siebert auflachte und Brombach einen triumphierenden Blick zuwarf.
„Zugegebenermaßen für die Zeitgenossen etwas schwer zu schreiben. Das war in meiner Jugend noch anders. Also ich buchstabiere: Theodor – Rudolf – Anton – Victor – Nordpol – Ida – Cäsar – Zeisig – Emil – Karl. Vorname: Joseph, bitte mit „ph“, darauf hat er immer Wert gelegt.“
Martina Lange tippte den Namen in den Computer, verschrieb sich aber dreimal, da ihr allmählich schwante, was hier gespielt wurde. Sie fragte weiter: „Und was ist Herr Travniczek von Beruf?“
„Polizist!“ – Martina Lange suchte vergebens den Blickkontakt zu ihrem Kollegen, der mit offenem Mund völlig entgeistert in die Leere starrte.
„Welcher Dienstgrad?“
„Hauptkommissar, er war bis vor kurzem Leiter der Münchner Mordkommission.“
Stille – man hätte eine Stecknadel fallen hören –, bis Melissa Siebert sich nicht mehr halten konnte und laut losprustete. Der vermeintliche Herr Meyer-Hampel erhob sich, blickte verschmitzt lächelnd in die Runde und sagte mit freundlicher, ruhiger Stimme: „Also, meine Herrschaften, wir können die Komödie jetzt beenden. Herrn Meyer-Hampel gibt es nicht. Ich habe ihn frei erfunden. Ich bin Joseph Travniczek, Ihr neuer Dienststellenleiter.“
Brombach und Lange standen verlegen mit langen Gesichtern im Raum. Vor allem Brombach hätte sich wohl gerne in eine Maus verwandelt, um das Terrain fluchtartig verlassen zu können. Nur Melissa Siebert schien sich köstlich zu amüsieren.
„Also“, fuhr der neue Chef fort, „vielleicht muss ich mich für diese kleine Komödie entschuldigen. Aber ich wollte möglichst schnell erfahren, wie Sie hier so arbeiten, und da schien mir dieser etwas unkonventionelle Einstieg ganz effektiv. Und außerdem hat Theaterspielen mir immer schon unheimlich viel Spaß gemacht.“
Martina Lange befreite sich als Erste aus der Verlegenheit und fragte: „Ein besonders gutes Bild haben wir da wohl gerade nicht abgegeben?“
„Nun“, entgegnete Travniczek beruhigend, „was mich sehr beeindruckt hat, unsere Sekretärin hat mein Spiel wohl als Erste durchschaut. Und es spricht immer sehr für eine Dienststelle, wenn auch, wenn ich so sagen darf, die niederen Dienstgrade konstruktiv mitdenken und zu Problemlösungen beitragen. Ansonsten – nun, ich habe es Ihnen nicht einfach gemacht und einen Trottel gegeben, wie es ihn in der Wirklichkeit kaum geben wird. Und so war es sicher eher schwierig, instinktiv auf die richtige Spur zu kommen. Aber, ohne jetzt auf Einzelheiten einzugehen, kann ich Ihnen gleich zu Beginn meine Philosophie des Dienstes bei der Kriminalpolizei vermitteln. Mir ist es wichtig, dass wir alle Menschen, mit denen wir zu tun haben, vorurteilslos ernst nehmen, ganz gleich, ob sie freundlich, garstig, intelligent, dumm, verlegen, schüchtern, arrogant, gutmütig oder abgrundtief böse sind. Wir dürfen nie urteilen, sondern immer nur beobachten, um aus unseren Beobachtungen Schlüsse zu ziehen. Und wir dürfen vor allem nie vergessen: Es handelt sich um Menschen, die immer das Recht haben, ernst genommen zu werden. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Man müsste einmal eine Statistik erheben, wie viele Verbrechen nicht aufgeklärt oder nicht verhindert wurden, weil die Ermittler mit Vorurteilen, die sie selbst oft gar nicht kennen, an eine Sache herangegangen sind. Also, genug der Vorrede, setzen wir uns zusammen und klären einige technische Details.“
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