Wer immer strebend sich bemüht,
den dürfen wir erlösen. 12
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Völlig erschöpft durch den Aufstieg spürte der Mann, wie sein Herz raste und ihm bis zum Halse schlug. Er hielt an, drehte sich um und stützte sich mit der rechten Hand auf der steinernen Balustrade der Scheffelterrasse ab. Den Kopf tief gesenkt, atmete er mit geschlossenen Augen einige Male langsam und tief aus und ein. Allmählich öffneten sich seine Augen wieder und sein Blick fiel auf die im Nebel verschwommenen Lichter der Altstadt und die vor dem schwarzen, sternenbedeckten Nachthimmel feurig hell erleuchtete Ostfassade des Schlosses. Doch diese grandiose Kulisse erreichte sein Inneres nicht. Mit starrer Miene wandte er sich nach Süden und ging in den Schlosspark hinein. Vor ihm standen weit ausladende, uralte Bäume, deren Blätter sich nur ganz leicht im kaum spürbaren Wind bewegten. Rauschen von Wasser durchzog die Luft. Es deutete auf das Ziel seines Weges, den Brunnen des Vater Rhein, den man in der südöstlichen Ecke des Parks mehr ahnen als sehen konnte, da er vom rötlichen Scheinwerferlicht nur matt erleuchtet war.
Auf diesen richtete sich jetzt sein Blick und blieb auf ihm haften, während er langsam die Scheffelterrasse entlangging. Die Brunnenfigur wurde immer deutlicher, während der Mann an der ersten Wegkreuzung zunächst zögerte und dann nach links einbog. Kurze Zeit später stand er dem Vater Rhein gegenüber. Umringt von den hohen Fontänen des Springbrunnens, blickte die auf Felsbrocken liegende steinerne Figur mit verträumten Augen in unendliche Fernen. Viel musste sie gesehen haben in den fast vierhundert Jahren, die sie hier bewegungslos lag.
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Er muss sterben – unbedingt sterben – schweigen muss er für immer –
Aber – darf ich ihn töten? – wenn ich ihn töte – dann überschreite ich eine Grenze – unwiderruflich – da wird es kein zurück mehr geben – doch auch Faust hat getötet 13–
aber – kann ich denn morden? – wird meine Hand nicht zittern, wenn ich die Waffe erhebe? – dann wird er nur höhnisch lachen – und mein Kampf ist für immer verloren – – –
aber – muss ich denn kämpfen? – ich kann die Waffe auch gegen mich selbst richten – und alle Not hat ein Ende – die Dämonen der Kindheit gebannt – ewiger Friede in meiner Seele –
aber – wenn ich dann doch Rechenschaft ablegen muss – was werde ich sagen? – kann denn ein ewiger Richter ermessen, was es bedeutet, für immer Opfer zu sein? – immer wieder zu scheitern – zwanghaft tun zu müssen, was man nicht will? – ich sollte es darauf ankommen lassen – nur eine kleine Bewegung – und es ist alles vorbei …
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Plötzlich war alles still. Die Fontänen des Brunnens schwiegen. Auch das warme, rötliche Scheinwerferlicht war erloschen. Die hell strahlende Schlossfassade war nur noch eine dunkle Silhouette mit gespenstisch leeren Fensterhöhlen. Es blieb das kalte, weißliche Licht der Weglaternen. Zwölf Mal durchbrachen die Glockenschläge der Uhr vom Torturm 14die mitternächtliche Stille. Das Gesicht des Vater Rhein war aschfahl geworden. Es schien, als ob er ausgeträumt hätte und ihn hellsichtig Schrecken ergriffe vor dem, was nun geschehen sollte.
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Die Fontänen verstummt – die Scheinwerfer dunkel – es ist jetzt Mitternacht – warum meldet er sich nicht? – ich will es hinter mich bringen – –
ich darf mich nicht töten – denn ich werde gebraucht – ich muss doch noch denen helfen, die keinen Ausweg mehr sehen – ich muss ihnen zeigen, wo ihre verborgenen Wege liegen – und meine Kinder – Sebastian und Hannes – sie brauchen den Vater – ich muss ihre Unschuld bewahren – wenn der Vater sich tötet – bricht ihre Welt zusammen – dann wird auch offenbar das Tun meines dunklen Ichs – dann sind die Seelen auch dieser Kinder zerstört – und das Spiel beginnt wieder von vorn – das muss ich verhindern – sie muss ich bewahren vor einem Schicksal, das mich selber so quält …
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Sein Handy klingelte und riss ihn aus seinen Gedanken. Er hörte wieder die verstellte Stimme: „Sie gehen jetzt langsam auf das Portal der Grotte vor Ihnen zu bis zum Absperrgitter und stellen den Aktenkoffer an der linken Seitenwand ab. Dann bleiben Sie stehen. Behalten Sie das Handy am Ohr und warten Sie auf neue Anweisungen!“
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Diese Stimme – woher kenne ich sie? – es will sich nicht zeigen – aber der Platz für den Koffer kommt meinen Plänen entgegen – ich kann mich verstecken – und wenn er sich den Koffer holt, wird meine Kugel ihn treffen …
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„Jetzt gehen Sie rückwärts ganz langsam wieder ins Freie, bis Sie den Beckenrand berühren.“
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Was soll das? – spielt er mit mir? – es liegt etwas Furchtbares in der Luft – mir ist, als greife eine kalte Hand nach meinem Herzen – was will er von mir? – will er kein Geld, sondern nur Rache? – will er mich töten? – oh, auf einmal wird alles klar – es kann …
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„Du sollst jetzt wissen, wer ich bin! – – ICH BIN DER GEIST, DER STETS VERNEINT!“ 15
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Die Stimme – nicht mehr verstellt – jetzt erkenne ich sie – ich hätte es längst schon erkennen müssen – o Gott, ihn kann ich nicht töten – nicht diesen Menschen – das wäre Verrat – was bleibt mir zu tun? – was hat er vor? – warum gibt er sich ausgerechnet jetzt zu erkennen? – was – – –
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Wie glühender Stahl durchfuhr ein nie gekannter Schmerz seinen Schädel und ließ ihn bersten. Das Dunkel der Nacht zerfetzten tausend gleißend grelle Blitze, sogleich verschlungen von vollkommenem Schwarz. Und das vollkommene Schwarz zerrann ins bodenlose, allumfassende Nichts.
Stille. Die Nebeldecke über der schlafenden Stadt ließ kein Geräusch mehr bis hier herauf dringen. Der aufgehende Mond warf ein fahles Licht auf die Fassaden des Schlosses, während der Vater-Rhein-Brunnen noch im Schatten der Berge lag, die hinter dem Park groß und schwarz vor dem blass erhellten Nachthimmel standen. Am Boden der Tote. Vor ihm sein Mörder, reglos, die blutige Keule in der rechten Hand, seinen triumphierenden Blick auf das Opfer gerichtet.
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Ich hab es getan – mich wird Mephisto jetzt loben – hast du tatsächlich geglaubt, ich wollte dein Geld? – mich interessiert dein Geld nicht – ich bin kein gewöhnlicher Mörder – nein, ich bin vom Schicksal ausersehen – ich muss seine Notwendigkeiten vollenden – und du hast dein Leben verwirkt – vielfach – durch dein furchtbares Tun – und mein Leben hast du dann auch noch zerstört – was mir gehörte, hast du genommen,– und mir deshalb den Weg aus der Hölle verlegt – ich kann ihn nun nie mehr finden – ich fühle das …
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Es war etwas Wind aufgekommen. Die Blätter der großen alten Bäume des Parks rauschten in leichter Bewegung. Der Himmel wurde heller. Der Mond würde bald auch hier aufgehen.
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Ich muss mich schützen – ich habe noch Pflichten zu erfüllen – mich dürfen sie noch nicht finden – ich muss sie verwirren und falsche Spuren legen – ich nehme dem Toten, was ihnen verrät, wer er ist – ich werfe ihn in den Brunnen und bedecke das Blut auf der Erde mit Kies – ich stelle den Koffer mit dem Geld auf den Brunnenrand – sie sollen sich das Hirn zermartern – warum stiehlt einer die Brieftasche, lässt aber 100.000 Euro stehen? – sie sollen sich im Kreise drehen – und ich habe Zeit – ich kann tun, was Mephisto verlangt – ich könnte es nicht ertragen, gerichtet zu werden von denen, die das normale Leben lieben – die nicht erkennen, dass all ihr Tun vergebens ist – dass es keinen Sinn geben kann – und wenn ich alles getan habe, was ich tun muss? – ich werde Mephisto sein im grandiosen Finale – eine Apotheose des Nichts …
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