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Wie er beschlossen hatte, nahm er dem Toten Handy und Brieftasche ab, schleifte ihn zum Brunnenrand und ließ ihn so sachte ins Wasser gleiten, als ob er die Stille der Nacht nicht stören wollte. Dass dabei etwas aus der Hosentasche des Toten fiel, bemerkte er nicht. Dann holte er den Geldkoffer und stellte ihn auf den Brunnenrand. Noch lange Zeit verharrte er vor dem Brunnen, den Blick auf sein Opfer gerichtet. Dann drehte er sich langsam um und entfernte sich mit gesenktem Kopf in Richtung der Scheffelterrasse. Dass die ganze Zeit zwei scharfe Augen das Geschehen beobachtet hatten, war ihm entgangen.
Der Mond war inzwischen hinter den Bergen hervorgekommen. Die vom auflebenden Wind leicht gekräuselte Oberfläche des Brunnenwassers schimmerte silbrig. Vom Körper des Toten ragte in zwei schwarzen, kaum wahrnehmbaren Kreisen nur etwas vom Kopf und Rumpf aus dem Wasser. Vater Rhein thronte wie ein Wächter über der Szenerie. Stiller Friede legte sich über den Ort des schaurigen Geschehens.
Es war Montagmorgen kurz nach sieben Uhr. Das Büro der Mordkommission in der Polizeidirektion Heidelberg lag noch verwaist in der Wochenendruhe. Im Morgengrauen drang wenig Licht durch die Glasfront an der Längsseite des zweckmäßig eingerichteten Raumes. Gegenüber der Fensterfront waren die ganze Wand entlang mehrere Aktenschränke aus dunkelbraunem Holz und silbern glänzenden Edelstahlstützen aufgereiht. Wenn man durch die Tür in der Mitte der Stirnwand hereinkam, schaute man links vor den Aktenschränken auf den Schreibtisch der Sekretärin Frau Siebert, die auch für technische Recherchen zuständig war. Auf der rechten Seite stand vor der Fensterfront ein runder Tisch mit fünf Stühlen, der zu Gesprächen verschiedenster Art diente. In der Mitte des Raumes hatten Oberkommissar Michael Brombach und Oberkommissarin Martina Lange ihre Arbeitsplätze, die einander gegenüberlagen, damit man bei der Arbeit problemlos Kontakt miteinander aufnehmen konnte. Vor der Rückwand dann der groß dimensionierte Chefschreibtisch, von dem aus man leicht den ganzen Raum überblicken konnte. Er war leer geräumt, weil der langjährige Leiter der Mordkommission, Eduard Bamberger, am vergangenen Freitag in seinen wohlverdienten Ruhestand verabschiedet worden war. Heute sollte sein Nachfolger Joseph Travniczek seinen Dienst antreten. Auf die Idee, den Raum durch Zimmerpflanzen oder Bilder an den Wänden etwas freundlicher zu gestalten, war bisher wohl noch niemand gekommen.
Wie fast jeden Tag kam auch heute die Sekretärin Melissa Siebert schon deutlich vor dem eigentlichen Dienstbeginn ins Büro. Die etwas rundliche, recht kleingewachsene Endfünfzigerin konnte sich nur mühsam fortbewegen, denn sie hatte drei große Blumensträuße und mehrere Plastiktüten voll mit Backwerk mitgebracht. Für den Einstand des neuen Chefs wollte sie das sonst eher sterile Büro freundlicher, lebendiger und wärmer erscheinen lassen. Sie nahm aus dem untersten Fach eines Aktenschrankes drei Vasen, füllte sie mit Wasser, stellte die Sträuße hinein und arrangierte sie sorgfältig. Dann ließ sie ihre stets freundlichen, hellblauen Augen durch den großen Büroraum schweifen, um zu entscheiden, wo die Blumen ihre größte Wirkung entfalten könnten. Sie stellte dann einen Strauß von zwanzig roten Rosen auf den Besprechungstisch, Sonnenblumen vor den Arbeitsplatz von Brombach und Frau Lange und einen bunten Herbstblumenstrauß direkt auf den Chefschreibtisch.
Sie hielt nochmals inne, um sich mit prüfendem Blick davon zu überzeugen, dass ihre Wahl gut war, und wandte sich dann der Kaffeemaschine zu. Es war ein tägliches Morgenritual. Mindestens zwei Löffel Kaffeepulver mehr als normal musste sie in den Filter schütten, weil sie wusste, dass das Team ohne ständigen Nachschub an starkem Kaffee nicht wirklich arbeitsfähig war und deshalb sämtliche Mörder im Großraum Heidelberg weiter unbehelligt frei herumlaufen würden. Als das Wasser durch die Maschine zu laufen begann, öffnete sich schwungvoll die Tür und Kommissar Michael Brombach trat ein, Enddreißiger, groß gewachsen, forscher Blick, erkennbar stolz auf seine durchtrainierte sportliche Figur, seine fast schwarzen Haare und die sonnengebräunte Haut. Er trug sehr enge, schwarze Jeans, ein ebenso eng anliegendes, schwarzweiß gestreiftes, oben offenes Hemd und graue Sportschuhe.
„Guten Morgen, Kommissar“, begrüßte ihn Melissa Siebert.
„Morgen“, entgegnete Brombach und nahm mit spöttischem Lächeln den Blumenschmuck zur Kenntnis. „Der gute Melissengeist hat mal wieder für Leben in der tristen Bude hier gesorgt. Schlechte Zeiten für Heidelbergs Mörder. Die fangen wir jetzt doppelt so schnell.“
„Ach, Brombach, wenn du meinst, ich hätte die Blumen für euch Ignoranten besorgt, so irrst du gewaltig. Hast du vergessen, dass heute ein besonderer Tag ist?“
„Das fällt mir jetzt grade nicht ein.“
„Aber heute kommt doch unser neuer Chef! Und der soll doch gleich einen guten Eindruck von uns bekommen. Du weißt doch: Der erste Eindruck ist immer der wichtigste.“
„Ach, jetzt versteh ich. Du willst dich bei dem Neuen, Tawizik, oder wie der heißt, einschleimen!“
„Jetzt red doch keinen Quatsch! Wir haben hier eine Reihe von Jahren gut zusammengearbeitet und – “
„Eben“, unterbrach Brombach.
„Was heißt eben?“
„Eben heißt eben! Wir haben hier in der Tat seit fast zehn Jahren mit dem alten Bamberger blendend zusammengearbeitet, haben anerkanntermaßen sehr gute Arbeit geleistet. Wir hatten mehrere Jahre hintereinander landesweit die höchste Aufklärungsrate. Dann verabschiedet sich der Bamberger in den Ruhestand. Zur Abschiedsfeier kommt sogar der Innenminister, labert hier herum, überschüttet uns, die Heidelberger Mordkommission, mit Lobeshymnen und was dann? Sie setzen uns diesen Tschechen oder Slowaken vor die Nase!“
„Also, Kommissar Brombach, bitte keine fremdenfeindlichen Ressentiments! Du hast wohl im Geschichtsunterricht geschlafen. Es gab vor dem Zweiten Weltkrieg das Sudetenland, aus dem nach Kriegsende über drei Millionen Deutsche vertrieben worden sind, von denen viele tschechisch klingende Namen hatten. Und übrigens, der Mann heißt Travniczek.“
„Das mag ja alles sein und ich habe gegen den Mann auch nichts persönlich. Ich bin nur sauer auf diese hochherrschaftlichen Verwaltungsfuzzis. Nach dem, was wir hier geleistet haben, hätte ich, oder meinetwegen auch Martina, die Leitung der Mordkommission übernehmen müssen.“
„Da gebe ich dir natürlich recht. Aber du weißt ja – “
Da klingelte das Telefon.
„Aha, die Arbeit ruft“, meinte Brombach wenig erfreut, während die Sekretärin den Hörer abnahm und dem Anrufer eine Weile zuhörte. Melissa Siebert verdeckte das Mikro des Hörers mit der Hand und wandte sich an Brombach.
„Kommissar, die Pforte ruft an. Sie hätten dort einen Herrn Meyer-Hampel oder so ähnlich, der unbedingt mit jemandem von der Mordkommission sprechen will. Er wollte auch keine Andeutungen machen, um was es geht.“
„Dann sollen die uns diesen Hampelmann hochschicken. Wahrscheinlich wieder so ein üblicher Wichtigtuer, dem angeblich zwei Mörder durch den Vorgarten gelaufen sind. Und wenn man nachprüft, dann waren’s nur zwei Katzen. In der Regel Zeitverschwendung.“
Das Gespräch zwischen Brombach und der Sekretärin über den neuen Chef und die Ungerechtigkeit dieser Personalentscheidung wurde bald durch leises Klopfen an der Tür unterbrochen.
„Ja, bitte!“, rief Brombach in barschem Ton. Die Tür öffnete sich zögerlich zunächst nur einen Spalt. Es erschien ein ziemlich großer Kopf, der aber einem recht kleinen Mann gehören musste. Zwei verschmitzt lächelnde, recht weit auseinander stehende blaue Augen überflogen prüfend den Raum. Über buschigen Augenbrauen erhob sich eine leicht fliehende Stirn mit tiefen Geheimratsecken. Das hellbraune, schon etwas schüttere Haar war nach hinten gekämmt. Die Backenknochen standen leicht vor, der Mund war breit mit dicken Lippen und einem etwas struppigen Oberlippenbart. Im Zentrum prangte gleich einem Leuchtturm auf einer Insel eine große Adlernase.
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