Alle vier nahmen an dem runden Besprechungstisch Platz, auf den Melissa Siebert schon Kaffeetassen und zwei Teller mit Keksen und anderem Gebäck gestellt hatte. Sie goss ein, und nach kurzer Pause begann Travniczek: „Nun, vorweg, was mich auch sehr gefreut hat, waren die drei wunderschönen Blumensträuße hier im Raum. Das bringt hier Leben hinein, wo so viel vom Tod die Rede ist. Ich weiß jetzt nicht, ob das eine Begrüßungszeremonie für mich war oder ob es bei Ihnen so üblich ist. Ich lege Wert darauf, dass es so bleibt. Ein paar dauerhafte Grünpflanzen wären sicher gut. Das heißt, meine erste Dienstanweisung in meiner neuen Position geht an Sie, Frau Siebert. Sie tragen ab sofort die Verantwortung dafür, dass es hier ein wenig lebendiger wird. Kosten spielen keine Rolle, da wird sich alles lösen lassen. Des Weiteren müssen wir klären – – “
Das Telefon auf Brombachs Schreibtisch klingelte und unterbrach den neuen Chef. „Das riecht nach Arbeit. Ich geh ran“, sagte Brombach etwas missmutig, eilte zu seinem Schreibtisch und nahm den Hörer ab. Eine Weile hörte er nur zu. Dann: „Wann? – Wo? – Ist schon jemand vor Ort? – O. k., wir kommen so schnell wie möglich. Ich denke, spätestens in einer halben Stunde sind wir da.“
Er legte den Hörer auf und wandte sich den anderen zu: „Die technischen Details müssen warten. Es gibt Arbeit. Die Heidelberger Kriminellen haben sich wohl auch einen Einstand für den neuen Chef der Mordkommission ausgedacht. Männliche Leiche im Schlossgarten, hinten beim Vater-Rhein-Brunnen 12.“
Travniczek erhob sich sofort: „O. k., dann fahre ich da jetzt gleich hin. Frau Lange, begleiten Sie mich bitte. Herr Brombach, Sie halten hier die Stellung, um mögliche Hinweise entgegenzunehmen. Und sicher gibt es ja auch noch irgendwelchen Bürokram zu erledigen.“
„Herr Travniczek“, unterbrach ihn Brombach, „eine persönliche Frage: Haben Sie selbst, so wie Meyer-Hampel behauptet hat, am Kurfürst-Friedrich-Gymnasium Abitur gemacht oder war das auch frei erfunden?“
„Das war in der Tat auch frei erfunden. Ich war noch nie in Heidelberg, und da die Entscheidung, dass ich hier diese neue Stelle antrete, innerhalb von zwei Tagen fiel, hatte ich auch kaum die Möglichkeit, mich vorzubereiten. Es hat nur zum Erwerb eines Stadtplans und eines Reiseführers gereicht.“
„Na, dann haben Sie Glück“, schaltete sich Martina Lange in das Gespräch ein, „denn gleich Ihr erster Fall führt Sie an den berühmtesten Ort unserer Stadt: das Heidelberger Schloss.“
Der neue Chef der Mordkommission eilte mit Martina Lange durch die Gänge der Polizeidirektion. Sie verließen sie durch den Haupteingang und wandten sich zum Parkplatz. Travniczek nutzte die Gelegenheit, seine Kollegin näher von der Seite zu betrachten, und war durchaus empfänglich dafür, es mit einer ausgesprochen reizvollen Kollegin zu tun zu haben. Eine schlanke, durchtrainierte Gestalt, ein wohlgeformter kleiner Kopf mit ovalem Gesicht, schulterlangen, dunkelblonden, leicht gelockten Haaren und einem schmalen Mund, dessen Lippen dezent mit Rouge nachgezogen waren. Aber am auffälligsten waren ihre blaugrünen, hellwachen Augen, die ganz und gar nicht frei von Schalk waren. Sie trug enganliegende dunkelgraue Jeans und ein weißes, weit geschnittenes Top. Das alles machte durchaus Eindruck auf ihn. Aber er verbot sich sofort weitergehende Gedanken, da es sein eisernes Prinzip war, nie Berufliches mit Privatem zu vermischen.
„So, das wäre unser Dienstwagen“; sagte Martina Lange, als sie den Parkplatz erreichten. „Da Sie Heidelberg nicht kennen, ist es sicher gut, wenn ich fahre. Und wenn es Ihnen recht ist, werde ich die Fahrt dazu nutzen, Sie etwas in die Stadt Heidelberg einzuführen.“
Travniczek nickte dankend. Sie bestiegen das Auto und fuhren los. Nach wenigen Metern erreichten sie den Römerkreis.
„Wir kommen jetzt gleich in die Kurfürstenanlage. In diesem Bereich von Heidelberg finden Sie nur neuere Gebäude. Das sieht hier so aus wie in fast allen anderen großen deutschen Städten, die nach den kriegsbedingten Zerstörungen in den Fünfziger Jahren neu aufgebaut wurden. Hier ist es aber anders. Wissen Sie, Heidelberg ist die einzige deutsche Großstadt, die im Krieg nicht bombardiert wurde. Das verdankt unsere Stadt der Sentimentalität der Amerikaner. Sie haben schon immer für Heidelberg geschwärmt. Für sie ist es der Inbegriff der deutschen Romantik. Und so hatten sie schon frühzeitig beschlossen, nach gewonnenem Krieg ihr Hauptquartier in Heidelberg aufzuschlagen. Und dafür sollte das alte Heidelberg erhalten bleiben.
Was nun den Bereich der Kurfürstenanlage angeht: Dort war früher der Heidelberger Hauptbahnhof, ein Sackbahnhof, der in den frühen Fünfziger Jahren durch den jetzigen, etwas weiter westlich liegenden ersetzt wurde. Dadurch wurde in der Stadtmitte dieses große Areal frei, das dann neu bebaut werden konnte.
Die Grünanlage mit dem großen Springbrunnen vor uns ist der Adenauerplatz, zusammen mit dem Bismarckplatz links davon, den Sie jetzt nicht sehen können, das Zentrum des neuen Heidelberg. Wir fahren jetzt gleich rechts an dem Platz vorbei durch einen Straßentunnel. Der ist ein Überbleibsel des alten Bahnhofs. Die Eisenbahnstrecke durchs Neckartal führte früher da hindurch.“
Nach der Fahrt durch den gut dreihundert Meter langen Tunnel setzte Martina Lange ihre Stadtführung fort. „Da direkt vor uns sehen Sie die Peterskirche 18. Es ist die älteste Kirche Heidelbergs, bis zum Bau der Heiliggeistkirche, die man jetzt nicht sehen kann, Heidelbergs Hauptkirche. Danach wurde sie Universitätskirche und ist das bis heute geblieben. Ganz kurz können Sie links dahinter einen prachtvollen Bau sehen, der aber gar nicht so alt ist, wie er aussieht. Er wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet. Es ist die Universitätsbibliothek 19, in der neben anderen auch die „Manessehandschrift“ aufbewahrt wird, eine der weltweit bedeutendsten mittelalterlichen Liedersammlungen. Und da rechts das Klingentor 20, einziges erhaltenes Stadttor des alten Heidelberg aus dem frühen 17. Jahrhundert.
Wir biegen jetzt von der Hauptlinie, die ins Neckartal führt, rechts ab und fahren über die Neue Schlossstraße hoch zum Schloss. Die Straße wird jetzt sehr eng. Sie ist in den steilen Hang hinein gebaut. Aber trotzdem stehen an den Straßenseiten dichtgedrängt alte Häuser. Auf der rechten Seite sind sie aus dem Auto schwer zu sehen, da sie oberhalb dieser hohen Stützmauern errichtet wurden. Wer hier wohnt, muss ständig viele Treppen steigen. Das hält sicher fit. Nach der Spitzkehre dort vorne achten Sie rechts auf ein ganz besonderes Prachtstück: ein burgähnlicher Palast. Genaueres weiß ich aber darüber nicht. Das Schloss selbst lassen Sie zunächst einmal einfach auf sich wirken. Dazu könnte man stundenlang erzählen. Und dazu haben wir jetzt sicher keine Zeit.“
Sie kamen an der Bergbahnstation vorbei zum Haupteingang des Schlossgartens, der natürlich für Autos normalerweise gesperrt ist. Jetzt aber stand dort ein Verkehrspolizist. Sie mussten sich ausweisen und konnten dann weiterfahren.
An einem Montagmorgen im Oktober sind auch bei sonnigem Wetter noch fast keine Touristen unterwegs. Dennoch steuerte Martina Lange ihren Wagen jetzt nur im Schritttempo weiter. Sie wollte ihrem neuen Chef doch die Möglichkeit geben, einen ersten Eindruck von der Schlossanlage zu bekommen. Der Park lag noch in tiefem Schatten, während die Berge auf der nördlichen Neckarseite schon sonnenbeschienen waren.
„Ein paar Angaben zu dem, was Sie hier sehen, will ich doch machen“, setzte Martina Lange ihre Erklärungen fort. „Hier gleich links der Stückgarten 21. Hier stand früher eine lange Reihe von Geschützen, die im Falle eines feindlichen Angriffs das ganze Tal bestreichen konnten. Und da steht ein kleines Tor eigentlich völlig nutzlos in der Gegend, das Elisabethentor 22. Irgendeiner der hier herrschenden Kurfürsten hat es in einer Nacht erbauen lassen, um es seiner Frau, Elisabeth mit Namen, zum Geschenk zu machen. Und hinter diesem Garten die Ruinen vom Dicken Turm 23und Englischen Bau 24. Und gleich da rechts das neue Service-Center, das sie in die ehemalige Sattelkammer gebaut haben, man kann es auch Touristenmelkstation nennen. Links gegenüber das Brückenhaus 25und der Torturm, komplett erhalten. Da kommt man in den Schlosshof 26. Früher kam man da immer umsonst hinein, aber seit einiger Zeit muss man tagsüber leider Eintritt zahlen. Und gleich da vorne links der für mich spannendste Bau hier oben, der Krautturm oder auch Pulverturm. Der ist einst explodiert. Der abgesprengte Teil liegt noch so da wie vor über dreihundert Jahren. Sehen Sie sich diese Mauern an, mehr als fünf Meter dick. Das muss damals furchtbar gekracht haben.“
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