„Hm, Entschuldigung, wenn ich störe. Bin ich hier richtig bei der Mordkommission?“
„Da sind Sie goldrichtig“, erwiderte Kommissar Brombach etwas ungeduldig. „Treten Sie bitte näher!“
Die Tür öffnete sich und gab den Blick frei auf die ganze Gestalt. Der große Kopf saß auf einem kurzen dicken Hals und einem im Verhältnis zum Kopf zu klein geratenen, aber doch sehr kräftigen Körper. Er trug eine hellbraune Lederjacke, ziemlich abgewetzt und wohl schon lange in Gebrauch, über einem lila Hemd, dessen zwei obere Knöpfe offen waren und den Blick auf eine dichtbehaarte Brust freigaben. Dazu trug er graue Leinenhosen, deren Bügelfalten ihren Namen nicht mehr verdienten, und dunkelbraune Schuhe, die offenbar schon länger mit keiner Schuhbürste mehr in Berührung gekommen waren.
„Darf ich Platz nehmen?“, fragte der Besucher.
„Aber gewiss doch“, antwortete Brombach und zeigte auf einen der Stühle an dem Tisch neben dem Eingang, auf dem Melissa Siebert den Rosenstrauß platziert hatte.
„Rote Rosen bei der Polizei! Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet.“
„Sehen Sie“, gab Brombach lächelnd zurück, „die Polizei ist gar nicht so schlimm wie ihr Ruf. Aber zunächst einmal: Mit wem habe ich das Vergnügen?“
„O je, wie ungeschickt von mir! Ich hätte mich gleich vorstellen müssen. Das gehört sich ja eigentlich so. Aber Sie müssen entschuldigen, ich bin etwas nervös, Sie müssen nämlich wissen, ich hatte mein Lebtag noch nie mit der Polizei zu tun, und da ist man beim ersten Mal schon, ja, Sie wissen sicher …“
„Also, da machen Sie sich mal keine Sorgen. Angst haben müssen vor uns nur die Spitzbuben, und die richtig, aber für alle anderen sind wir – Sie kennen den Spruch – Freund und Helfer. – Aber jetzt zur Sache. Sie sind?“
„Meyer-Hampel, Wilfried.“
„Wohnhaft?“
„In München, Schwanenthalerstraße 14.“
„Sie wollen uns etwas mitteilen. Also bitte.“
„Ja, entschuldigen Sie, aber das ist nicht so einfach, ich weiß nicht so recht, wo ich anfangen soll.“
„Vorne am besten.“
„Ich will Ihnen natürlich nicht Ihre sicher sehr kostbare Zeit rauben. Aber um mich verständlich zu machen, muss ich etwas weiter ausholen.“
Während des Gesprächs war Melissa Siebert an den Tisch getreten, sah den Besucher freundlich lächelnd an und fragte: „Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“
„Ach, ganz herzlichen Dank.“
„Aber ich warne Sie. Bei der Polizei trinkt man sehr starken Kaffee.“
„Dann vielleicht doch nicht. Wissen Sie, das Herz … ist nicht mehr ganz so, wie es sein sollte. Aber vielleicht ein Glas Wasser?“
„Aber selbstverständlich! Einen Augenblick.“
Brombach sah sie strafend an wegen ihrer, wie er fand, völlig überflüssigen Freundlichkeit und weil sie ihm keinen Kaffee angeboten hatte. Zu Meyer-Hampel gewandt: „Das ist hier unsere gute Seele. Ohne sie wäre es hier gar nicht auszuhalten. Aber jetzt endlich zur Sache. Was haben Sie zu sagen?“
„Entschuldigen Sie, aber eine Frage noch: Sind Sie hier der Chef?“
„Das nicht. Der hat gerade woanders zu tun. Aber Sie können sich ruhig mir anvertrauen. Also, jetzt endlich, schießen Sie los!“
„Na so was, bei der Polizei schießt man gleich. Aber Spaß beiseite. Also, das ist so. Ich habe vor Jahrzehnten hier in Heidelberg gelebt und habe neun Jahre im altehrwürdigen Kurfürst-Friedrich-Gymnasium 16verbracht und da 1974 Abitur gemacht. Dann ging ich nach München zum Studieren und habe dann dort eine Familie gegründet und mich beruflich etabliert. Meine Eltern starben früh, und so ist mein Kontakt zu Heidelberg abgerissen, da ich keine anderen Verwandten hier hatte.“
„Sie sind doch sicher nicht hergekommen, um uns das zu erzählen“, warf Brombach mit zunehmender Ungeduld ein.
„Natürlich nicht! Natürlich nicht! Aber Sie müssen entschuldigen, die Sache ist sonst nicht zu verstehen. Also – jetzt habe ich den Faden verloren – wo war ich stehengeblieben? Ach ja! Ich hatte, wie gesagt, den Kontakt zu Heidelberg verloren, es kamen Kinder, drei Mädchen, hinreißend süß waren sie, als sie klein waren. Ich müsste noch irgendwo Bilder aus dieser frühen Zeit haben. Aber das brauchen wir vielleicht wirklich nicht. Sie sind übrigens mittlerweile alle drei aus dem Haus, zwei sind verheiratet und haben selbst Kinder, ja die Enkelchen, das ist wirklich wunderschön mit ihnen. Aber entschuldigen Sie, ich schweife jetzt doch etwas ab. Also, um es kurzzumachen. Es ist jetzt ungefähr ein halbes Jahr her, da traf ich am Viktualienmarkt – Sie kennen den Viktualienmarkt? Einer der schönsten Plätze auf der Welt, wie ich finde …“
„Nein, kenne ich nicht, hatte noch nicht das Vergnügen, in München zu lustwandeln.“
„Das ist aber ein Fehler! Wissen Sie, München ist eine der schönsten Städte der Welt, die muss man gesehen haben!“
„Da haben Sie sicher recht, aber wir haben eben hier eine ganze Menge zu tun, und deswegen wäre ich Ihnen jetzt wirklich sehr dankbar, wenn Sie endlich zur Sache kämen!“
Inzwischen hatte auch Kommissarin Martina Lange das Büro betreten und Melissa Siebert zu verstehen gegeben, dass sie wieder einmal auf der Ziegelhäuser Landstraße im Stau gestanden hatte. Sie setzte sich neben Brombach an den Tisch.
„Darf ich vorstellen: meine Kollegin Lange.“
„Oh, sehr erfreut, sehr erfreut, aber mir fällt gerade auf, ich habe wohl Ihren Namen vergessen, oder – haben Sie ihn gar nicht genannt?“
„Jetzt muss ich mich entschuldigen: Kommissar Brombach.“
„Oh, sehr erfreut, Herr Kommissar. Ach, wo war ich denn stehengeblieben? Ach ja, bei den Enkelchen, aber ich wollte ja die Sache abkürzen, nein richtig, ich war ja schon einen Schritt weiter, am Viktualienmarkt. Wirklich wunderschön dort, das müssen Sie mir glauben. Also, dort traf ich, wie gesagt, vor etwa einem halben Jahr ganz zufällig einen alten Klassenkameraden. Wir kamen ins Gespräch über die vergangenen Zeiten, über die vielfältigen Schönheiten von Heidelberg. Natürlich auch die Mädchen, ja, damals waren wir noch jung. Das waren Zeiten. Wir erinnerten uns, dass wir gerne miteinander Schach gespielt hatten. Kurz und gut, nachdem wir unsere Adressen ausgetauscht hatten und ich merkte, dass er gar nicht – “
„Zur Sache bitte, unsere Zeit ist begrenzt und unsere Geduld nicht unendlich.“
„Ja, entschuldigen Sie, die Sache ist eben doch kompliziert und das Problem nicht so leicht zu verstehen. Also, wo war ich nochmal stehengeblieben? Ach ja, also, wir trafen uns, froh, uns wiedergefunden zu haben, seitdem regelmäßig zum Schach und zum Erzählen über alte Zeiten, und dann hatte mein Schulkamerad schließlich die wirklich hervorragende Idee, unsere Erinnerungen an Ort und Stelle aufzufrischen und eine gemeinsame Reise nach Heidelberg zu unternehmen, ohne Familien, nur wir zwei, um in die alten Zeiten einzutauchen.“
Er nahm einen genussvollen Schluck aus dem Glas Wasser, das ihm die Sekretärin inzwischen hingestellt hatte. Brombach und Lange warfen sich gequälte Blicke zu und nur Melissa Siebert bemerkte, dass die Augen des merkwürdigen Besuchers immer listiger und spöttischer blinzelten. Ihr schien, dass er sich ausgesprochen wohl fühlte und sich glänzend amüsierte. Sie hatte mehr und mehr das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Er fuhr fort: „Also, wir kamen dann vor drei Tagen hier in Heidelberg an. Wir haben keine Kosten gescheut und sind im Hotel Ritter 17abgestiegen – Sie kennen doch sicher das Hotel Ritter, ist doch sehr berühmt, oder?“
Brombach wurde jetzt erkennbar zornig: „Natürlich kenne ich das Hotel Ritter, ich bin schließlich gebürtiger Heidelberger und habe noch nie in einer anderen Stadt gelebt. Aber jetzt bitte weiter und endlich zur Sache!“
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