„Aber das ist doch schon eine ganze Menge“, bedankte sich Travniczek und suchte nach seiner Kollegin. Sie trat von der Seite an ihn heran und meinte: „Die Befragung des Finders der Leiche war wenig ergiebig. Er hat sie beim Joggen im Brunnen liegen sehen, ist furchtbar erschrocken und steht etwas unter Schock. Aber dass er mit der Tat irgendetwas zu tun hat, erscheint mir denkbar unwahrscheinlich. Ich habe ihn aber auf jeden Fall für morgen in die Direktion bestellt, um ein Protokoll zu erstellen.“
„Gut“, sagte Travniczek. „Dann sind wir ja hier erst einmal fertig und können zurück ins Büro.“
Nach einigen Metern hielt Travniczek noch einmal an und schaute zurück. Sein Blick blieb an der Figur des Vater Rhein hängen.
„Sehen Sie sich dieses Gesicht an, Frau Lange. So traurig, wie der dreinschaut, hat der sicher alles gesehen, was hier letzte Nacht passiert ist. Da hätten wir auf jeden Fall einen Zeugen.“
„Na ja“, warf Martina Lange ein, „allerdings ist es ein steinharter Bursche. Aus dem wird man nicht leicht etwas herausbringen.“
„Aber wenn Sie Ihren Charme spielen lassen, werden Sie ihn doch sicher erweichen können. Und dann wird er alles vor Ihnen ausbreiten.“
„Ich weiß nicht. Ich mag ja Komplimente, aber da überschätzen Sie mich jetzt doch wohl ein wenig.“
„Da bin ich aber enttäuscht von Ihnen. Von einer guten Polizistin hätte ich nun schon erwartet, dass sie so etwas kann.“
„Also, dann ein Vorschlag zur Güte. Wir machen Arbeitsteilung. Sie sorgen dafür, dass dieser Herr morgen auf der Direktion erscheint, und ich nehme ihn dann ins Kreuzverhör, und da wird er alles sagen, was wir wissen wollen. Im Übrigen: Der Mann liegt hier schon seit fast vierhundert Jahren. Und da hat er schon sehr viel gesehen. Auch die Zerstörung des Schlosses lief vor seinen Augen ab. Sein trauriger Blick hat sicher nicht nur mit dem Mord heute zu tun.“
O Gott, o Gott – was für ein Alptraum! – es ist nicht wahr – Gottfried ist nicht weg – er ist im Unterricht – aber die Schule hat angerufen – er ist nicht gekommen – der Mann von der Notrufzentrale – Gottfried vermisst melden – auf dem Polizeirevier Nord – wie komm ich zur Furtwänglerstraße? – Dossenheimer Landstraße, dann Berliner Straße – dann links abbiegen – darf man dort abbiegen? – ich bin völlig durcheinander – kann ich überhaupt fahren? – das gab es noch nie – in all den Jahren – mein Gottfried war da – immer – hat mir geholfen – für alles gesorgt – wenn ich nicht weiter konnte – wenn alles schwarz war – wenn ich ihn vor mir sah – diesen Scheißkerl – hat mein Leben ruiniert – vierzehn Jahre ist das her – und immer noch Panik – er steht plötzlich vor mir – obwohl er weit weg ist – hoffentlich tot – und jetzt ist auch Gottfried weg – einfach weg – das kann nicht sein – er lässt mich nicht im Stich – wenn ihm was zugestoßen ist – das ist das Ende – allein kann ich nicht – – wo ist der verdammte Autoschlüssel? – durch die ganze Wohnung bin ich gerannt – er ist nirgends – – gestern Abend – alles wie immer – wieder seine Kopfschmerzen – wie so oft – er ist in den Wald – den er so liebt – dann geht es ihm besser – – da hängt er ja – wo er hingehört – so durcheinander – ich schaffe es nicht - die einfachsten Dinge – – er ist nicht nach Hause gekommen – so war es ja oft – hab gar nichts gemerkt – nichts Böses gedacht – – und dann ruft die Schule an – er ist nicht gekommen – und jetzt zur Polizei – hoffentlich finde ich die – der Mann in der Notrufzentrale – ein unfreundlicher Kerl …
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Elvira Wolters, eine unscheinbare kleine Frau von einundvierzig Jahren, verließ völlig konfus ihre Wohnung in der Mühltalstraße 150 und schlug die Wohnungstür hinter sich zu, ohne abzuschließen. Ihr Wagen, ein dunkelblauer VW-Golf, stand vor der Haustür. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie nur mit Mühe die Wagentür aufschließen konnte. Sie setzte sich hinter das Steuer ohne sich anzuschnallen, und es gelang ihr erst nach mehreren Versuchen, den Zündschlüssel in das Schlüsselloch zu stecken und das Auto zu starten. Viel zu schnell fuhr sie in Richtung Handschuhsheim 27Zentrum.
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Warum muss ich da hin? – konnten die keinen schicken? – wenn ich so durcheinander bin – es passiert noch ein Unfall – ich muss mich beruhigen – auf den Verkehr achten – das kann gar nicht wahr sein – alles ganz harmlos – nicht immer die Nerven verlieren – jetzt nach rechts zur Tiefburg 28– wenn er nicht ehrlich ist? – wenn er nicht im Wald schläft? – irgendwas anderes macht? – das darf ich nicht denken – er ist immer gut zu mir – und zu den Kindern – sein Ein und Alles – er ist ehrlich – doch, doch, ganz bestimmt – aber das glaubt mir kein Mensch – das Nachts-im-Wald-Schlafen – die halten mich für verrückt – mit einer anderen ist er durchgegangen – die nicht so spinnt – werden sie denken – die Polizei überzeugen? – aber wie? – er ist ein so guter Mensch – das müssen die glauben – wenn doch was passiert ist? – das darf ich nicht denken – Gedanken werden wahr – was wird aus den Kindern? – vor allem Sebastian – der Papa ist sein Gott – wie kann ich ihn schützen? – lieber Gott, hilf – sag mir, dass nichts – – –
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In diesem Moment gab es einen lauten Knall. Sie war ohne auf die rote Ampel zu achten viel zu schnell in die Kreuzung zur B 3 hineingefahren, und dabei prallte ein Motorrad mit hoher Geschwindigkeit gegen ihr linkes Vorderrad, schleuderte über ihren Kühler, überschlug sich mehrmals und zertrümmerte krachend einen Metallzaun, der die Fahrbahn vom Gehsteig abgrenzte. Der Fahrer schlug mit dem Rücken auf der Fahrbahn auf, rutschte auf dem Asphalt weiter und wurde erst von der Bordsteinkante gestoppt. Elvira Wolters in ihrem Golf drehte sich zweimal um ihre eigene Achse, donnerte mit der Fahrerseite unter lautem Klirren der berstenden Fensterscheiben gegen einen Oberleitungsmast in der Mitte der Straße und drehte sich weiter auf die Straßenbahngleise, wo eine im gleichen Moment aus nördlicher Richtung heranfahrende Bahn trotz kreischender Bremsen nicht mehr zum Stehen kommen konnte, den Golf im Heck traf und ihn weiter auf die Gegenfahrbahn schob. Dort krachte ihm ein weißer Audi, dem durch die Straßenbahn die Sicht auf den Unfall versperrt war, fast ungebremst in die rechte Flanke, stellte sich quer zur Fahrbahn und ein hellblauer Renault Twingo, der dem Audi zu dicht gefolgt war, konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und fuhr seinem Vordermann auf Höhe der Fahrertür in die Seite. Weitere Fahrzeuge kamen mit quietschenden Bremsen noch rechtzeitig zum Stehen.
Für einen kleinen Moment war es völlig still. Dann hörte man Schreien und Rufen. Viele Menschen, die an der nahen Haltestelle auf die Straßenbahn warteten oder die am Hans-Thoma-Platz und den benachbarten Straßen zu Fuß unterwegs waren, liefen zur Unfallstelle um zu sehen, was da genau passiert war. Schnell wuchs die Zahl der Gaffer, aber es machten sich sofort auch einige Passanten daran, den Verletzten zu helfen.
Ein junger Mann eilte zu dem Motorradfahrer, der reglos am Boden lag, und sprach ihn an. Als der nicht reagierte, öffnete er die Bindung des Sturzhelms, fasste an die Halsschlagader und konnte sich überzeugen, dass er zumindest noch lebte. Er lief zu einem dunkelroten Ford Escort, der in der Dossenheimer Landstraße gleich hinter Elvira Wolters gefahren war, und fragte nach einer Decke. Der Fahrer, der den Schreck über den schweren Unfall noch nicht verdaut hatte, suchte eine Weile verwirrt in seinem Kofferraum und konnte dann eine finden. Der junge Mann nahm sie dankend an, ging zum Motorradfahrer zurück, brachte ihn mit kundigen Griffen auf der Decke in stabile Seitenlage und deckte ihn zu. Mehr konnte er im Moment nicht für ihn tun.
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