1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Einige bemühten sich um Frau Wolters. Sie konnten sehen, dass sie aus einer Platzwunde am Kopf stark blutete, aber sie konnten nicht zu ihr gelangen, weil sich an dem völlig ramponierten Golf keine Tür mehr öffnen ließ. Da aber die Glasscheibe der Fahrertür beim Aufprall gegen den Oberleitungsmast gänzlich herausgeflogen war, versuchte eine Frau wenigstens, die Verletzte anzusprechen, aber sie reagierte nicht, obwohl sie nicht wirklich bewusstlos zu sein schien. Dennoch blieb die Frau bei ihr und griff durch das Fenster nach ihrer Hand, um sie in ihrer Not nicht alleine zu lassen.
Die Fahrer der beiden zuletzt in den Unfall verwickelten Fahrzeuge waren dank Airbag unverletzt geblieben. Sie waren ausgestiegen und sich sofort lautstark in die Haare darüber geraten, wer den Unfall verschuldet hatte. Es drohte handgreiflich zu werden, bis die Beifahrerin aus dem Renault die Streithähne mühsam trennen konnte und dabei auch noch versuchen musste, ihren kleinen Sohn zu trösten, der sich wohl sehr weh getan hatte oder zumindest fürchterlich erschrocken war.
Mittlerweile hatte auch der vom Schock kreidebleiche Fahrer der verunglückten Straßenbahn die Türen geöffnet. Langsam stiegen die Fahrgäste teils ziemlich benommen aus. Einige waren wohl leichter verletzt. Jemand rief um Hilfe, weil im hinteren Teil des Zuges eine alte Frau schwer gestürzt war und nicht mehr aufstehen konnte.
Unter den vielen passiv am Rande stehenden Zuschauern entspannen sich heftige Diskussionen über den Unfallhergang. Jeder glaubte genau gesehen zu haben, wie es passiert war, nur – fast jeder hatte etwas anderes gesehen. Da hörte man aus der Berliner Straße das Martinshorn von mehreren Fahrzeugen. Sekunden später trafen ein Notarzt- und zwei Krankenwagen ein.
Der Arzt verschaffte sich einen Überblick über die Lage. Drei Schwerverletzte mussten möglichst schnell in die Klinik transportiert werden. Also forderte er noch zwei weitere Krankenwagen an und kümmerte sich dann als Erstes um den Motorradfahrer. Als er sah, dass dieser schon ersthelferisch versorgt war, fühlte er kurz seinen Puls. Sein Kreislauf schien einigermaßen stabil zu sein, und so konnte er direkt in einen der Krankenwagen getragen und zur Klinik gefahren werden. Die Sanitäter hatten währenddessen schon nach den anderen Verletzten gesehen und vergeblich versucht, Frau Wolters mit einem Brecheisen aus ihrem Auto zu befreien. Sie mussten die Feuerwehr zu Hilfe rufen. Der Notarzt versorgte dann durch das offene Seitenfenster wenigstens notdürftig die stark blutende Kopfwunde durch einen Druckverband. Dabei versuchte er auch, die Verletzte anzusprechen, und fragte laut, aber sehr ruhig: „Können Sie mich verstehen?“
Frau Wolters antwortete stammelnd und bruchstückhaft: „Wer sind …? Wo … ich? Wie … hergekommen?“
„Sie hatten einen Unfall und sind schwer verletzt. Ich bin Arzt und versuche, Ihnen zu helfen, bis der Rettungswagen kommt und Sie in die Klinik bringt. Das müsste bald sein. Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?“
„Ich … weiß … nicht … heißen … mein Mann … verschwunden … was … die Kinder.“ Sie stand offenbar so unter Schock, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Er bat die Frau, die sich schon um Frau Wolters gekümmert hatte, bei ihr zu bleiben, bis weitere Hilfe käme.
Da er hier nichts weiter machen konnte, ging er zur Straßenbahn, um nach der gestürzten alten Frau im Wagen zu sehen. Sie lag auf dem Boden und wimmerte leise vor sich hin.
„Was ist mit Ihnen passiert?“, fragte der Arzt.
„Ich weiß nicht genau. Es ging alles so schnell, und plötzlich lag ich am Boden. Und jetzt tut mein Bein so weh und ich kann es nicht mehr bewegen.“
„Wo genau tut es denn weh?“
Sie zeigte auf ihren rechten Oberschenkel. „Das könnte ein Oberschenkelhalsbruch sein“, vermutete der Arzt. „Ich gebe Ihnen jetzt erst einmal eine Beruhigungsspritze, damit Sie sich etwas entspannen können. Und dann werden wir Sie ins Krankenhaus bringen.“
„Ist es denn wirklich so schlimm?“
„Ich fürchte, ja“, sagte der Arzt. „Genau untersucht werden muss die Sache auf jeden Fall.“
„Aber meine Tochter wartet doch auf mich, ich habe ihr versprochen, auf die beiden Enkelkinder aufzupassen, während sie zur Arbeit geht.“
„Also, ich fürchte, daraus wird jetzt nichts. Haben Sie ein Handy, um Ihre Tochter anzurufen?“
„Nein, nein! Mit dem neumodischen Zeug komme ich nicht mehr zurecht.“
„Da weiß ich jetzt auch keinen Rat. Wir bringen Sie auf jeden Fall erst einmal in den Rettungswagen. Die Sanitäter dort können Ihnen sicher helfen, mit Ihrer Tochter Kontakt aufzunehmen.“
Er wies die Sanitäter des zweiten Rettungswagens an, die alte Frau in die Chirurgie zu befördern. Inzwischen waren die weiteren Krankenwagen eingetroffen. Notarzt und Sanitäter kümmerten sich um die Leichtverletzten. Fünf wurden zur weiteren ambulanten Behandlung mit einem weiteren Rettungswagen in die Klinik gebracht.
Auch die Verkehrspolizei war in der Zwischenzeit vor Ort. Die Beamten sahen sofort, dass es Stunden dauern würde, bis die Kreuzung wieder für den Verkehr freigegeben werden könnte, und verständigten ihre Zentrale, damit eine weiträumige Umleitung organisiert würde. Denn durch die Sperrung der Unfallkreuzung war die Verbindung von Heidelberg zur Bergstraße blockiert. Entsprechend lange Schlangen hatten sich auch schon in alle Richtungen gebildet, und hier musste dringend etwas geschehen.
Während sie begannen, den Unfall aufzunehmen, kam die Feuerwehr. Ihren Spezialisten gelang es schnell auch ohne den Einsatz eines Schneidbrenners, Frau Wolters aus dem Autowrack zu befreien. Und so konnte auch sie endlich in den letzten Krankenwagen gebracht und in die Chirurgie gefahren werden.
Die Polizei brauchte mehrere Stunden, um alle Spuren zu sichern, die Zeugen zu befragen und die Personalien aufzunehmen. Dabei konnte die Schuldfrage eindeutig geklärt werden. Danach erst wurden die Unfallfahrzeuge abgeschleppt. Es war schon lange nach 13 Uhr, als die Kreuzung endlich wieder freigegeben werden konnte und der Verkehr, der sich zwischenzeitlich durch die engen Straßen des alten Handschuhsheim quälen musste, wieder flüssig rollte. Besondere Schwierigkeiten ergaben sich, die Verursacherin des Unfalls zu identifizieren. Sie war ohne alle Papiere losgefahren und das Auto war geleast, so dass das Kennzeichen nur zu der Leasingfirma führte, und dort ging niemand ans Telefon. Also musste man sich gedulden, bis die Frau entweder wieder ansprechbar oder als vermisst gemeldet wurde bzw. sich jemand von der Leasingfirma meldete.
Es war inzwischen 10 Uhr 30, als Travniczek und Martina Lange wieder das Büro der Mordkommission betraten. Strahlend hell war es geworden, seit die Morgensonne durch die lange Fensterfront in den Raum schien. „Verehrte Kollegen“, rief der Hauptkommissar, „setzen wir uns bitte zusammen für eine erste Lagebesprechung.“
Melissa Siebert hatte schon Tassen und einen großen Teller mit Keksen auf den Tisch gestellt. Die zweite Kanne starken Kaffees an diesem Tag war fast fertig.
„Herr Brombach“, begann Travniczek, „hat es bisher irgendeine Vermisstenmeldung gegeben, die auf unseren Fall passt?“
„Im Prinzip nein“, antwortete Brombach, „es hat sich lediglich Thomas Berg von der Notrufzentrale gemeldet. Bei ihm habe eine Frau angerufen, die ihren Mann als vermisst melden wollte. Sie sei sehr verwirrt gewesen. Er habe sie an das Polizeirevier Nord verwiesen. Dort ist aber bis jetzt niemand gewesen. Falls sie noch kommt, wollen die uns von dort sofort anrufen.“
„Name der Frau?“ hakte Travniczek nach.
„Sie hat ihren Namen wohl nicht genannt und der Kollege hat vergessen nachzufragen.“
„Verdammt“, knurrte Travniczek, „dass diese Leute auch ihren Job nicht richtig machen können. O. k., damit müssen wir jetzt leben. Frau Lange, fassen Sie bitte den Sachstand aus Ihrer Sicht zusammen.“
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