Die drei Männer wechselten einen Blick.
»Das klingt ja dramatisch. Was haben Sie gedacht, was Sie hier finden würden?« Doktor Sörensen schien nicht erfreut zu sein über die Frage. »Glauben Sie, dass wir hier an den Gefangenen herum experimentieren?«
»Meine Anwesenheit ist keine Glaubenssache, sondern hat schlicht mit Erkenntnis zu tun. Es war auch nicht meine Idee ..., obwohl das Thema mir selbstverständlich am Herzen liegt ..., aber die Punkte, die ich hier während meines Aufenthaltes zu klären habe, sind Vorgaben seitens des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.«
Es setzte eine fast hörbare Stille ein. Doch sie währte nur kurz.
»Diesen Punkt können Sie als erledigt betrachten«, erklärte der Professor mit Nachdruck.
Thompson nickte bekräftigend, und Sörensen erklärte mir: »Wir sind hier im Gegenteil daran interessiert, nach dem Ursprung des Lebens zu suchen ..., den Menschen noch besser zu verstehen. Doch darüber wird Ihnen sicherlich Professor Nilsson Genaueres erzählen. Er ist der wissenschaftliche Leiter der Forschungsabteilung und hat sein Büro auf der Insel. Er ist auch der älteste Wissenschaftler vor Ort ..., es ist seine letzte Station vor dem Ruhestand. Wir anderen sind alle etwas jünger ..., na ja die meisten jedenfalls.«
Ein spöttisches Grinsen galt Baranowski, der, wie ich wusste, auch schon fast sechzig Jahre alt war.
»Wer solche Mitarbeiter hat, braucht keine Feinde«, seufzte Baranowski, doch ich merkte, dass er es nicht ernst meinte. »Wenn ich da sehe, wenn so eine junge Frau wie Sie daher kommt ...«
»Ich stehe in der Mitte des Lebens«, erklärte ich. »Ich bin noch jung genug, um neue Impulse zu geben, aber auch erfahren genug, um ...«
Jemand klopfte an die Tür, öffnete sie und trat ein. Ein junger Mann stand im Büro, hinter ihm sah ich noch eine Gestalt, doch blieb der erste stehen, als er uns sah. »Oh, Entschuldigung!«
»Kein Problem!«, sagte Thompson, »kommen Sie ruhig herein ..., dann kann ich Sie bekannt machen.«
Der Angesprochene kam näher, gefolgt von einem weiteren jungen Mann.
»Maik Broders und Björn Altmann ..., Doktor Sophia Fernández von den Vereinten Nationen«, stellte Thompson uns einander vor.
Wir gaben uns die Hand. »Hallo, angenehm.«
Ich wusste nicht, wie viel die beiden wissen durften und überließ daher dem Direktor die weitere Vorstellung: »Miss Fernández ist zu uns geschickt worden, um mal nach dem Rechten zu sehen. Und um zu prüfen, ob das Geld sinnvoll eingesetzt ist.« Er gestattete sich ein Lächeln.
Die Männer lachten.
»Und vielleicht ist sie auch da, um Ihre Forschungsarbeiten ein wenig unter die Lupe zu nehmen.«
»Wirklich?« Björn sah mich neugierig an.
»Halb so wild«, wiegelte ich ab. »Ich bin Rechtspsychologin, keine Naturwissenschaftlerin.«
»Das macht nichts«, betonte Maik. »Sie können gerne an unseren und meinen Forschungen teilhaben.«
Thompson stöhnte gespielt und mit leicht gequälter Miene. »Er kann es einfach nicht lassen. Kaum ist eine Frau im Raum ..., ts ts ...«
»Die Jugend von heute!«, seufzte Baranowski wieder mit einer Portion Ironie.
So manchen anderen hätten diese Bemerkungen sicherlich in Verlegenheit gebracht. Nicht jedoch Maik. Er wirkte womöglich noch selbstsicherer, als er mit einem Lächeln fragte: »Ich hoffe, Sie haben das nicht als blöde Anmache aufgefasst?«
Ich hatte auch die Akten von Maik Broders und Björn Altmann studiert. Sie waren Studenten und neunundzwanzig beziehungsweise vierundzwanzig Jahre alt. »Keineswegs«, gab ich zurück. »Junge, Junge« , dachte ich, »ich bin doch nicht um die halbe Welt geflogen, um hier eine Affäre mit einem sechs Jahre jüngeren Mann zu beginnen!« Obwohl ich mir eingestehen musste, dass er durchaus attraktiv war, groß, athletisch, dunkelblonde Haare, braun gebrannt – man hätte ihn auch beim Surfen vor Hawaii oder Kalifornien antreffen können. Theoretisch.
Björn unterbrach das Intermezzo. »Komm, wir gehen«, sagte er zu Maik. »Wir sehen uns!«
»Ja, bis bald«, meinte Maik und sah in die Runde. Doch er hatte eindeutig mich damit gemeint.
»Bye«, sagte ich.
Als die beiden gegangen waren, ergriff Doktor Sörensen das Wort: »Sie sind noch jung ..., keine dreißig Jahre alt. Das erklärt vielleicht ...«
»Sie brauchen sie nicht zu entschuldigen«, unterbrach ich ihn. »Es ist doch nichts passiert. Sie waren eben nur überrascht, eine Frau hier zu sehen.«
»Ja ..., und es war keine unangenehme Überraschung«, murmelte Thompson.
»Genau. Und die anderen Wissenschaftler werden Sie sicherlich auch noch kennen lernen.« Baranowski gab uns Gelegenheit, unsere Erkundungstour fortzusetzen.
Thompson und ich verabschiedeten uns von den beiden Ärzten und verließen den Raum. Er zeigte mir die Küche und die Kantine, machte mich mit dem Personal jedoch nicht bekannt. »Es handelt sich überwiegend um Einheimische, die auf der anderen Seite der Insel leben. Diejenigen, die nicht hier arbeiten, betreiben Fischfang, befinden sich aber natürlich genauso unter Beobachtung. Wie Sie wissen, ist ja eine Einheit vom United States Marine Corps auf der Insel stationiert. Denen entgeht nichts.«
»Ja. Das habe ich schon vor meinem Abflug gelesen.«
Wir gingen weiter. »Nun ..., dann kommen wir jetzt zum Schluss der Tour. Da kann ich Sie noch mit Pater Enrico bekannt machen. Vor zwei Jahren kamen die Vertreter der UN auf den Gedanken, dass es sinnvoll wäre, einen kirchlichen Vertreter hier vor Ort zu haben ..., einen Gottesmann, oder wie auch immer man das nennen soll. Pater Enrico ist nach Gesprächen mit dem Vatikan ausgewählt worden. Hier ist sein Zimmer.«
Wir blieben stehen, Thompson klopfte und trat ein.
Das Zimmer war halb so groß wie das der Ärzte, wirkte jedoch größer, da es ein Eckzimmer war und insofern von zwei Seiten Tageslicht herein schien. Der Pater saß an einem dunklen Schreibtisch und erhob sich bei unserem Eintritt. Er war so alt wie ich, wie ich wusste, fünfunddreißig. »Eine ganz andere Biographie« , dachte ich.
»Pater Enrico ..., ich möchte nicht lange stören ..., ich darf Ihnen Sophia Fernández vorstellen. Sie stattet uns einen kleinen Besuch ab, um sich die Verhältnisse aus nächster Nähe anzuschauen. Ihre Eindrücke fließen in einen Bericht ein, den später der Sicherheitsrat erhält.«
Wir gaben uns die Hand.
»Guten Tag!«
»Guten Tag!«
Thompson war an der Tür stehen geblieben. »Die meisten Insassen sind Angehörige des christlichen Glaubensbekenntnisses. Daher war dieser Schritt gewissermaßen eine logische Konsequenz.«
»Ich verstehe.«
»Wie lange werden Ihre Untersuchungen denn dauern?«, fragte der Geistliche.
»Eine Woche ..., vielleicht länger.«
»Dann werden wir bestimmt noch Gelegenheit erhalten, uns auszutauschen.«
»Das denke ich auch.«
Wir abschiedeten uns von Pater Enrico und gingen in Thompsons Büro. »Jetzt werde ich Ihnen noch die Wachmannschaft vorstellen, die diese Woche Dienst hat. Einige von ihnen haben Sie bei Ihrer Ankunft vermutlich schon gesehen.«
Er betätigte einen Knopf auf seinem Schreibtisch, und eine halbe Minute später standen vier Soldaten in schwarzen Kampfanzügen im Raum.
»Meine Herren! Ich möchte Ihnen Doktor Sophia Fernández vorstellen. Sie inspiziert unser Gefängnis und arbeitet an einem Bericht für den Sicherheitsrat. Die Dauer ihres Aufenthaltes ist zunächst für eine Woche vorgesehen, kann im Bedarfsfall aber um eine weitere verlängert werden. Ich erwarte, dass Sie ihr jede Unterstützung zukommen lassen, die sie benötigt!«
»Jawohl, Sir!«, tönte es wie aus einem Mund.
Der Direktor wandte sich an mich. »Sie wissen ja, wie es hier abläuft. Die Herren Smith, Kowalski, Novak und Philips haben diese Woche in diesem Bereich Dienst. Sofern Sie etwas benötigen, und ich gerade nicht erreichbar sein sollte, können Sie sich gerne an sie wenden.«
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