»Ja, aber in der Praxis wirkt es doch leicht anders, als wenn man es auf dem Papier liest oder in Filmen oder auf Fotos sieht«, erwiderte ich. Mir war ein bisschen mulmig zumute. Noch nie in meinem Leben war mir bewusst geworden, dass ich so abhängig von anderen Menschen war.
Ohne einen Hubschrauber war ich in diesem Gebäude gefangen. Es war nur durch die Luft erreichbar, von dem Oberdeck, das von einer dreieinhalb Meter hohen, glatten Wand eingerahmt war, hinter der es einhundert Meter in die Tiefe ging. Ins Wasser. In den Pazifik.
»Das System ist perfekt, das Gefängnis ist perfekt! Zu uns kommen nur solche, die es verdient haben«, sagte er im Brustton der Überzeugung. »Ausbruch unmöglich, Flucht unmöglich.«
Ich glaubte ihm aufs Wort. Die Überprüfungen seitens mehrerer Fachleute hatten dem Gefängnis gewissermaßen einen Status zuerkannt, der in der Branche einzigartig war. Der Bericht, der von einem ehemaligen Direktor eines US-amerikanischen Bundesgefängnisses verfasst worden war, war mir noch am besten in Erinnerung, da er im Gegensatz zu den anderen Berichten mit einer gehörigen Portion Sarkasmus endete. Sinngemäß lautete sein Fazit: »Hätte ich die Möglichkeiten gehabt, die hier im Auftrag der UN geschaffen worden sind, dann wäre mir kein Häftling entkommen. Es gibt nur einen Ausgang nach draußen, auf eine Plattform, die von einer dreieinhalb Meter hohen Mauer umgeben ist. Ohne Hilfe oder Hilfsmittel ist es undenkbar, dort hinüber zu gelangen. Man würde es aber auch gar nicht wollen, denn jenseits der Mauer wartet ein hundert Meter tiefer Abgrund. Sollte man diese Mauer dennoch bewältigen und auch den Hundert-Meter-Sprung in den Pazifik überleben, würde man sich in einem angenehm temperierten Wasser wiederfinden, über sich das Gefängnis, von dem aus man nicht verfolgt würde, da mit Sicherheit kein Wachtposten hinterherspringen würde. Der Flüchtling könnte dann also eigentlich entspannt zu der nicht allzu weit entfernten Insel schwimmen, wären da nicht die Meeresbewohner des größten Ozeans der Welt, die ihn unter Umständen als Zwischenmahlzeit betrachten könnten, und die Soldaten, die ihn auf der Insel erwarten würden, nur um ihn anschließend wieder in das Gefängnis zurück zu bringen. Per Helikopter. Der Häftling müsste also vor seiner Flucht über die Mauer dafür sorgen, dass er nach seinem Sprung von einem Boot aufgelesen werden könnte, mit dem er – nirgendwohin fahren würde, denn das gesamte Gebiet ist Militärisches Sperrgebiet. Jedes Schiff, jedes Flugzeug, jedes U-Boot, das unangemeldet in das Gebiet eindringen würde, würde sofort mehrere Kampfjets auf den Plan rufen, die von dem nächstgelegenen Militärstützpunkt auf einer Insel oder einem Flugzeugträger starten würden. In einem Umkreis von hundert Meilen um das Gefängnis sind die Piloten berechtigt, jedes Flugzeug entweder abzudrängen oder abzuschießen. Wer also nicht über eine kleine Privatarmee mit einem Wasserflugzeug, einem Schiff oder einem U-Boot verfügt, mit dem er schneller ist als ein Jet, sollte das Etablissement nicht unplanmäßig verlassen. Das Klima ist immerhin recht angenehm, auch in dem Gebäude, das Essen ist überdurchschnittlich gut, für das körperliche, seelische und geistige Wohlbefinden ist ebenfalls gesorgt, und draußen wartet nur der Tod.«
Wir waren derweil über den Flur gegangen und standen vor einer Tür, die Thompson öffnete. »Ich werde Sie jetzt mit einigen weiteren Mitarbeitern bekannt machen.«
In dem Büro standen zwei Männer an einer Wand, an der eine Seekarte angebracht war. Bei unserem Eintritt drehten sie sich um.
Vor meiner Abfahrt in New York hatte ich zur Vorbereitung die Akten aller Mitarbeiter gelesen und kannte daher die biographischen Daten. Da auch Fotos in den Akten waren, wusste ich sofort, wen ich vor mir hatte.
»Darf ich vorstellen«, sagte der Direktor, »Professor Walter Baranowski, Leiter der medizinischen Abteilung, und Doktor Lars Sörensen, sein Stellvertreter und engster Mitarbeiter. Beide sind so lange hier wie ich. Wir waren sozusagen die ersten Bewohner des Hauses. Meine Herren, darf ich vorstellen ..., Doktor Sophia Fernández. Sie wird unser Domizil im Laufe der nächsten Woche einer eingehenden Betrachtung unterziehen ..., im Auftrag des Sicherheitsrates.«
Der Professor kam auf mich zu. Ein ruhiger Blick, dann gab er mir die Hand. »Guten Tag!«
»Guten Tag!«
»Guten Tag!«, sagte auch sein Kollege Doktor Sörensen und gab mir ebenfalls die Hand.
»Guten Tag!«
Baranowski betrachtete mich noch immer mit ruhigem Blick, dann sagte er: »Ich wurde von dem Direktor bereits gestern informiert, dass Sie kommen würden. Wenn Sie Fragen zu unserer Forschung und unserer Arbeit haben, können Sie sich gern an mich wenden.«
»Danke sehr, das werde ich.«
»Sind Sie auch Ärztin?«, fragte Sörensen.
»Nein ..., Rechtspsychologin. Mein Studium beinhaltete allerdings ein praktisches Jahr an einer Universitätsklinik, und dabei hatte ich in einem Semester sogar die Gelegenheit, in der Rechtsmedizin in Berlin und in Paris zu arbeiten, so dass ich mit den medizinischen Grundlagen halbwegs vertraut bin.«
»Eine faszinierende Kombination«, stellte der Professor fest. »Das Studium war aber auch nicht in sieben Jahren zu schaffen.«
»Nein, ich habe neun Jahre gebraucht ..., aber es hat sich wirklich gelohnt. Ich habe seit fünf Jahren wohl so eine Art Traumjob. Für die Vereinten Nationen durch die Welt zu reisen und dabei mit den unterschiedlichsten Menschen zusammen zu arbeiten und die verschiedensten Situationen zu erleben ...«
»Ja ..., klingt interessant«, meinte Sörensen. »Aber wenn Sie so viel unterwegs sind, dann sprechen Sie auch viele Sprachen?«
»Ja ..., da musste ich zum Glück nicht mehr viel lernen. Ich bin gewissermaßen dreisprachig aufgewachsen, meine Mutter ist Spanierin, mein Vater Franzose, und in der Schule hatte ich ab der ersten Klasse Englisch. Sprachen zu lernen und zu sprechen war nie ein Problem für mich, und im Laufe meines Lebens kamen noch einige andere hinzu. Die unterschiedlichen Gesetze und deren Auslegung in den verschiedenen Ländern der Welt zu verstehen ist da weitaus schwieriger.«
»Von der menschlichen Psyche einmal abgesehen«, sagte Baranowski. Ich wusste, dass er nicht nur Arzt und Universitätsprofessor der Medizin war, sondern auch Psychologe und Psychotherapeut. Er hatte vor zwanzig Jahren in Kriegsgebieten gearbeitet, und war in der praktischen Arbeit ebenso erfahren wie in der Theorie im Lehrsaal. Nicht ohne Grund war er mit der Leitung der medizinischen Abteilung beauftragt worden.
»Das ist richtig. Die Menschen unterscheiden sich innerlich mehr als äußerlich.«
»Wo waren Sie zuletzt?«, erkundigte sich Sörensen.
»Ich war jetzt längere Zeit in New York ..., das war wohl in gewisser Weise mein Glück, denn so war ich sofort verfügbar. Eigentlich hätte mein Chef einen Kollegen hierher schicken wollen, doch der musste kurzfristig zu einem anderen Einsatzort.«
»Wohin?«
Ich wertete es als Reflex und hielt die Frage insofern für ganz natürlich. Da ich ihm jedoch nicht sagen durfte, worum es bei dem Einsatz ging, begegnete ich Sörensen mit einer ebenso direkten und – wie ich hoffte – leicht humorvollen Antwort: »Das ist ..., sagen wir, Geheimsache. Wir ermitteln nicht immer so offen, wie ich es hier bei Ihnen tue. Ich denke, Sie werden das verstehen.«
»Aber selbstverständlich ..., es war nur Neugierde«, bekannte er.
Bevor eine peinliche Pause entstehen konnte, erkundigte sich Baranowski: »Gibt es ein spezielles Thema in medizinischer Hinsicht, dass Sie für Ihren Bericht untersuchen wollen, Miss Fernández?«
»Wieder eine direkte Frage« , dachte ich. »Aber diesmal ist es kein Reflex, sondern wohl überlegt.« Ich sah dem Mediziner ruhig in die Augen. »Ja, ich möchte sicherstellen, dass es hier keine Menschenversuche oder etwas Derartiges gibt.«
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