Ich ließ die Jalousie wieder nach unten gleiten. Jetzt war ich hellwach. Da es aber noch entschieden zu früh war um aufzustehen, griff ich zu meinem Handy und schaltete es ein. Ich hatte zwölf neue E-Mails und drei neue Nachrichten, eine von meinem Vater, eine von meiner Schwester und eine von Tim. Ich hatte ihn am Samstag auf einer Party kennen gelernt, wir hatten uns gut unterhalten und zum Schluss die Handy-Nummern ausgetauscht. »Guten Morgen, schon ausgeschlafen?«, lautete seine Frage, die ich umgehend mit einem »Schon lange wach, aber von ausgeschlafen kann keine Rede sein« beantwortete.
Meine Schwester Jasmin schrieb mir, dass sie im Januar nach Äthiopien und von dort wohl nach Somalia gehen würde, zunächst seien drei Monate geplant.
Mein Vater schrieb mir, dass er für die Feier des fünfzigsten Geburtstags meiner Mutter im nächsten Monat eine Idee hätte, die er mit mir und den anderen einmal besprechen wollte. Natürlich ohne meine Mutter, da es eine Überraschung werden sollte. Er schlug vor, dass wir nächste Woche Mittwoch abends in seine Praxis kommen sollten.
Mein Vater ist Arzt, nach unserer Ankunft in Berlin konnte er seine Arbeit aber nicht sofort aufnehmen, da wir auf der Flucht alle Papiere verloren hatten. Wir hatten nur das, was wir auf dem Leib trugen, und waren froh, als wir die lange Reise bis in die Türkei geschafft hatten. Dort mussten wir drei Monate in einem Flüchtlingscamp ausharren, bis wir zusammen mit vielen anderen Flüchtlingen weiter durften. Nach Griechenland, und von dort über Mazedonien, Serbien und Montenegro, Ungarn und Österreich bis nach Deutschland. Zu Fuß und mit dem Zug, doch an Einzelheiten habe ich keine Erinnerungen mehr. Insgesamt waren wir sechs Monate unterwegs. Wir landeten schließlich in Berlin und mussten wiederum lange Zeit warten. Niemand wusste, wo wir unsere Flucht beenden würden. Doch das Schicksal meinte es gut mit uns. Da mein Vater in Deutschland studiert hatte, noch immer sehr gut Deutsch sprach und während unserer Wartezeit Kontakt zu einem alten Freund aufnehmen konnte, der inzwischen als Arzt in Berlin lebte und arbeitete, konnten wir hier bleiben. Wir bekamen eine Wohnung zugewiesen, in Kreuzberg. Dort leben meine Eltern noch heute, sie fühlen sich dort zu Hause.
Nach über einem halben Jahr mit sehr vielen Behördengängen und noch mehr Bürokratismus - Verwaltungsirrsinn, wie meine Mutter einmal gesagt hatte – konnte mein Vater wieder als Arzt praktizieren. Er konnte in der Praxis von seinem Freund anfangen, und mittlerweile hat er die Praxis übernommen, da der Freund mit seiner Frau nach Amerika gezogen ist.
Meine Mutter ist zuerst zu Hause geblieben und hat sich um uns Kinder gekümmert. Um meine älteren Brüder Safi und Aaron, meine ältere Schwester Jasmin und mich.
Safi war bereits sechzehn, als wir aus unserem Heimatland flohen, und nach einem Schuljahr machte er hier die Mittlere Reife und anschließend eine Lehre zum Kfz-Mechatroniker. Er war sehr zielstrebig und wusste schon immer, was er wollte. Er wohnte seit kurzem mit seiner Freundin zusammen, in Wilmersdorf.
Aaron hingegen besuchte wie später auch wir Mädchen ein Gymnasium und war nach dem Abitur zunächst unsicher, was er machen wollte. Nach einigem Zögern und Überlegen hat er sich dann dazu entschlossen, Journalist zu werden. Nach den Ereignissen im Flüchtlingscamp, die er als Dreizehnjähriger erlebt hatte, war er der Meinung, dass die Welt, die Menschen, immer die Wahrheit erfahren müssen. Auch zukünftig. Dabei war einer seiner Grundsätze, dass er sich nie als Sprachrohr missbrauchen lassen, sondern immer gut recherchieren wollte, bevor er etwas berichtete. Nach Stationen in Leipzig, Hamburg und München war er letztes Jahr nach Köln gegangen und hatte dort sein Journalistik-Studium abgeschlossen. Er hat sich auf Online-Journalismus spezialisiert, und er ist gut in seinem Job. Das Internet ist seine Welt, da kennt er sich aus. Selbst erfahrene Journalisten und Redakteure staunen bisweilen über seine Recherche-Ergebnisse. Inzwischen ist Aaron siebenundzwanzig, wohnt in Charlottenburg und arbeitet bei einer großen Zeitung in der Online-Redaktion.
Meine Schwester Jasmin ist drei Jahre älter als ich und war schon immer der emotionale, einfühlsame Typ. Sie wollte seit unserem Aufenthalt im Flüchtlingscamp in der Türkei Krankenschwester werden, da sie sich dort mit einer angefreundet hatte und später einmal alles machen wollte, was sie auch machte. Nach dem Abitur machte sie eine Ausbildung zur Krankenpflegerin, parallel studierte sie Gesundheits- und Pflegemanagement und bewarb sich anschließend beim UN-Flüchtlingshilfswerk. Sie wurde sofort genommen, nicht nur wegen des immensen Bedarfs an Fachkräften im Pflegebereich, sondern auch wegen ihrer Sprachkenntnisse. Wir alle waren diesbezüglich sehr erfahren, da wir sowohl Arabisch und Türkisch wie auch Englisch und Deutsch sprachen. Zudem hatten wir Grundkenntnisse in einigen anderen Sprachen wie Französisch und Kurdisch. Der lange Aufenthalt in dem Flüchtlingscamp sowie unser neues Zuhause in Berlin und speziell in Kreuzberg waren in dieser Hinsicht sehr lehrreich, und wir haben als Kinder alles aufgesogen, was uns begegnete. Manchmal wenn wir mittags nach Hause kamen und unsere Mutter mit den neuesten sprachlichen Errungenschaften konfrontierten, hatte sie gescherzt, dass wir später einmal eine Weltreise machen und uns mit jedem verständigen könnten, der uns dabei begegnete. Jasmin wohnt noch immer in Kreuzberg, sie hat ein Zimmer in einer WG mit zwei Frauen, die auch Krankenschwestern sind. Allerdings war sie im Laufe des letzten Jahres viel unterwegs, drei Monate in der Türkei, im Irak, in Syrien und Ägypten, und drei Monate in Kenia und im Sudan.
Als ich sechzehn war, hatte meine Mutter angefangen, halbtags zu arbeiten, und als ich letztes Jahr als letztes Kind der Familie in meine eigene Wohnung zog, wechselte sie die Stelle und arbeitet jetzt ganztags.
Ich schrieb meinem Vater zurück, dass ich nächsten Mittwoch kommen würde und auf die Überraschung schon sehr gespannt sei. Wir hatten schon immer ein sehr enges familiäres Verhältnis, und auch wenn wir jetzt räumlich getrennt voneinander lebten, so waren wir doch alle in Berlin, und es fanden sich zu derartigen Anlässen alle wieder zu Hause ein. Rückblickend betrachtet hatte die gemeinsame Flucht uns noch stärker gemacht, und ich erinnerte mich an ein Gespräch mit meinem Vater, in dem er mir erklärt hatte, dass ich das vierte Kind gewesen sei, und dass mit meiner Geburt in gewisser Weise die Zukunft oder die Gegenwart der Familie begonnen hatte. Denn einerseits hielten er und meine Mutter es für sinnvoll, dass ihre Kinder nicht in einem Traumschloss aufwuchsen, sondern sich durchaus mit der Realität auseinandersetzten, andererseits zählte auch die Sicherheit. Die beste Realität nutzt nichts, wenn man tot ist. Insofern hatten meine Eltern sich schließlich dazu entschlossen, das Land zu verlassen. Da war ich sieben Jahre alt. Mein Vater hat als Arzt schlimme Dinge gesehen, und eine Zeitlang war er sehr ruhig und zurückgezogen. Er hielt sich von mir und überhaupt von uns Kindern fern, wie ich fand. Wie ich später von meiner Mutter erfuhr, war das die Zeit, in der das Krankenhaus, in dem er arbeitete, bombardiert und zerstört worden war. Er hatte an dem Tag frei, doch viele seiner Kollegen und viele Patienten waren damals ums Leben gekommen. Wie er mir später einmal sagte, war dies auch ein Grund, warum er sich zur Flucht entschlossen hatte. Nach seiner Meinung waren gewisse ausländische Mächte nicht wirklich darauf aus, den Bürgerkrieg zu beenden, dem Gerede von Politikern schenkte er von da an nur noch wenig Beachtung. Damals hatte ich seine Worte nicht verstanden, doch als ich mir nach dem Abitur vor Ort selbst ein Bild der Umstände machen konnte, musste ich an ihn denken. Und ich fand so manche Äußerung bestätigt. Und im Rückblick verstand ich jetzt auch einige Zusammenhänge und sah vieles in einem anderen Licht. Einige Menschen wollten offenbar tatsächlich nicht, dass es besser wird. Doch andere wiederum packten an, wie man sagt, es musste schließlich vorwärts gehen! Nach meiner Rückkehr nach Deutschland stellte ich mit Bedauern fest, dass man von hier aus tatsächlich nur in geringem Maße die Verhältnisse in anderen Ländern verbessern konnte. In Relation zu dem, was darüber gesprochen und diskutiert wurde, stand es in keinem Fall! Da beschloss ich für mich, dass ich bald wieder dorthin fahren würde, ich hatte mehrere Menschen dort kennen gelernt, die so dachten wie ich, und mit denen ich auch noch in Kontakt war. Per E-Mail oder sogar telefonisch.
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