„Ja“, antwortete die Magierin zur Linken. Sie trug einen dunkelgrünen Umhang mit Kapuze, die zwar den Kopf bedeckte, ihr bleiches Gesicht allerdings nicht verhüllte. Ein bisschen erinnerte sie Tado an Nagoradra, nur mit dem Unterschied, dass ihr kein gefrorener Atem aus dem Mund entwich und sie im Allgemeinen weniger schaurig aussah. Die Gefährten und die beiden anderen Magier sahen sie gespannt an, denn sie erwarteten, die Frau würde das eine gesprochene Wort noch um ein paar Erklärungen oder Hintergründe erweitern. Das Gegenteil war jedoch der Fall: Der Magierin schien so viel Aufmerksamkeit unangenehm zu sein und sie wich den Blicken der anderen schüchtern aus.
„Wir haben das Geschehen am Strand aus der Ferne beobachtet“, unterbrach die Frau in Gelb das unangenehme Schweigen. „Als wir sahen, wie ihr gegen Parschald gekämpft habt und hinterher noch immer am Leben wart, beschlossen wir, euch zu retten.“
„Wovor retten?“, fragte Lukdan. „Wir waren der Gefahr bereits entronnen.“
Die Frau blickte ihn ein paar Sekunden lang an; sie sah aus, als fragte sie sich, ob die Ohnmacht sein Urteilsvermögen beeinträchtigt hatte.
„Der Magier, der das entflohene Schiff an den Strand zurückholte und einen der Männer mit einer einzigen Berührung vom Antlitz der Erde verschwinden ließ, ist der Lord des Wassers, einer der Oberen Vier, der mächtigsten Magier Telkors“, sagte sie mit ernster Stimme.
„In den unteren Kreisen Telkors nennt man ihn auch den Magier mit der Hand des Todes“, fügte der Mann mit dem Hut hinzu. „Niemand weiß, wie er es schafft, einen Körper mit nur einer einzigen Berührung explodieren zu lassen. Es ist jedoch bekannt, dass der Zauber bei allen Lebewesen gleichermaßen funktioniert, egal ob Tier, Mensch oder Magier. Wenn er euch in die Finger bekommen hätte (was wahrscheinlich schon nach wenigen Minuten der Fall gewesen wäre), würdet ihr euch wünschen, man hätte euch stattdessen lieber auf grausamste Weise gefoltert. Also haben wir euch ohne viel Aufsehen zu erregen außer Gefecht gesetzt, von der Küste weggeschafft und dem Lord gemeldet, ihr wäret im Kampf gegen uns gefallen.“
„Warum tut ihr so etwas?“, fragte Spiffi mit unbeabsichtigt entsetzter Stimme, als sei er schockiert, dass sie den Lord hintergingen. „Oder seid ihr keine Magier Telkors?“
„Natürlich sind wir das!“, empörte sich die Frau in Gelb. „Ansonsten hätten wir dem Lord wohl kaum unter die Augen treten können. Trotzdem war es nicht leicht, ihn mit eurem Tod zufriedenzustellen. Er sagte, dass einer von euch ein Schwert bei sich habe und er es unter allen Umständen in seinen Besitz bringen muss.“
„Ihr habt es ihm doch nicht etwa gegeben?!“, unterbrach Tado die Magierin entsetzt, als er mit panischem Herzklopfen feststellte, dass er die Drachenklinge nicht hatte verschwinden lassen, bevor er in Ohnmacht gefallen war. Er wusste nicht genau, warum er derart erschrocken reagierte, doch spürte er auch kein allzu großes Verlangen, zu erfahren, was passieren würde, wenn der Lord des Feuers und der Lord des Wassers zusammenkämen.
„Natürlich nicht“, entgegnete die Frau in Grün mit beleidigter Stimme, als hätte Tado sie gerade mit furchtbaren Worten beschimpft. Wieder warteten alle Anwesenden darauf, dass sie ihre Worte weiter erläuterte, und wieder schwieg sie nur betreten, als sie registrierte, dass alle Aufmerksamkeit nun ihr galt.
„Wir wissen zwar nicht, was genau es mit dem Schwert auf sich hat, aber da der Lord es in die Finger bekommen wollte, hielten wir es für besser, es vorerst selbst zu behalten“, versuchte die Frau in Gelb erneut, die von ihrer Begleiterin verursachte Stille zu durchbrechen. „Also erzählten wir ihm, dass wir keine derartige Waffe bei euch gefunden hätten. Dies ließ ihn dann zu der Annahme kommen, dass ihr das Schwert entweder irgendwo versteckt oder einem Komplizen überbracht habt, sodass er einen Suchtrupp entsandte, was unsere Situation zugegebenermaßen nicht unbedingt vereinfacht.“
„Was genau soll das bedeuten?“, fragte Lukdan ein wenig verwundert, denn die Worte der Magierin schienen ihn zu überraschen.
„Wir werden euch alles erklären“, erwiderte der Mann mit dem Hut. „Doch lasst uns dafür an einen geschützteren Ort gehen. Die Bucht hier lässt sich von oben zu leicht einsehen.“
Tado blickte nach links, wo in einigen Metern Entfernung steile Felswände in die Höhe ragten, auf deren Kamm ein paar niedrige, blattlose Bäume wuchsen.
„Wir werden eure Fesseln jetzt lösen“, sagte die Frau in Gelb. „Doch seid gewarnt: Wenn ihr versucht, uns anzugreifen oder davonzulaufen, werden wir nicht zögern, unsere Magie gegen euch einzusetzen.“
Tado hatte nichts dergleichen vor, denn es interessierte ihn sehr, warum die drei Magier sie so freundlich behandelten. Der Mann mit dem Hut streckte seine Hand aus. Die Fesseln, die die Gefährten bis zu diesem Moment nahezu bewegungsunfähig gemacht hatten, verschmolzen mit dem Felsen hinter ihnen und gaben ihre Arme frei. Die Magier bedeuteten den Gefährten, ihnen zu folgen. Gemeinsam begaben sie sich auf die gegenüberliegende Seite der Bucht, durchquerten eine große Spalte in der dortigen Felswand und gelangten an das flache Ufer eines gelblich schimmernden Gewässers, das sich weit über hundert Meter ins Landesinnere erstreckte, zu allen Seiten von hohen Felsen umgeben, die allesamt einem gemeinsamen Punkt irgendwo über ihnen zustrebten, jedoch nicht vollends erreichten, sodass ein kegelförmiges Dach mit einer unregelmäßig geformten Öffnung entstand, durch das nur wenige Strahlen des feuerroten Himmels in die Grotte hineindrangen. Was Tado zunächst als einen kleinen See interpretierte, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als ein Ausläufer des großen Meeres, das durch ein kleines Loch unterhalb der Wasseroberfläche in der Felswand zur Rechten mit dem Inneren der Grotte in Verbindung stand.
„Wie heißt dieser Ort?“, fragte Yala fasziniert.
„Telkor“, erwiderte die Frau in Gelb sichtlich verwirrt.
„Ich meine nicht die Insel“, sagte Yala stockend, denn die Worte der Magierin hatten sie wohl ein wenig durcheinandergebracht. „Ich rede von dieser Höhle hier.“
„Oh“, antwortete die Magierin mit entschuldigendem Blick. „Wir nennen sie die Lagune der Phantommagie. Die Geschichte hinter diesem Namen ist allerdings düster und unbehaglich. Vor vielen tausend Jahren, als Telkor noch jung war und sein Einfluss kaum weiter als die Grenzen dieser Insel reichte, lebte eine Magierin mit dem Namen Elluhkya unweit der südöstlichen Küste. Sie war zarten Alters, fast noch ein Kind, doch eine gewaltige magische Fähigkeit schlief tief in ihr: Die Kraft zu heilen. Ihre bloße Anwesenheit, das wärmende Gefühl ihrer Aura allein reichte aus, um auch die schwerste Verletzung in Sekundenschnelle zu kurieren. Mehr noch: Eine Berührung ihrer sanften Finger ließ das Leben erblühen und verlorene Kräfte wieder erstarken. Manche sagen sogar, sie vermochte selbst das Altern aufzuhalten. In jedem Fall waren derartige Kräfte den Magiern Telkors gänzlich unbekannt, und man begann sich über die Grenzen ihrer Fähigkeit Gedanken zu machen. Die magische Präsenz Elluhkyas wuchs jeden Tag, wurde schließlich derart mächtig, dass die Oberen Vier auf sie aufmerksam wurden. Sie boten ihr den Titel eines Lords an, wollten sie in ihren Rang erheben, und die Herrschaft über Telkor zu fünft führen. Es heißt, sie wären getrieben von der Vorstellung, die starke Magie der Heilung würde eines Tages dazu fähig sein, Tote wieder lebendig zu machen. Doch Elluhkya war nicht wie die meisten Magier Telkors. Ihr lag nichts an Einfluss und Macht. Sie schlug das Angebot der Oberen Vier aus und setzte ihr Leben an der Küste der Insel fort. In dieser Lagune hier verbrachte sie den größten Teil ihrer Zeit, sinnierte über das Leben und ließ ihre Kräfte wachsen, so, wie es die Magier damals zu tun pflegten. Eines Tages dann erschütterte ein heller Schrei die sonst so erhabene Stille Telkors, durchpflügte das Wasser des angrenzenden Ozeans, schäumte die hohen Wellen auf, durchdrang das feste Gestein der Steilküsten und ließ die ganze Insel erbeben. Eine Woge entfesselter Magie fegte über das Land hinweg und raubte all seinen Bewohnern für einen Moment die Sinne.
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