Dirion war es längst gewohnt, sich tage- und wochenlang nicht richtig zu waschen, wenn es das Feldlager nicht hergab, doch genoss er es auch, wenn ihm diese höfische Annehmlichkeit wieder zur Verfügung stand. Sein Diener kam zurück und füllte die Schüssel mit klarem Wasser aus dem Hofbrunnen auf, das durch Kupferrohre auch an einigen Orten innerhalb des Schlosses gefördert werden konnte.
Der Prinz öffnete eines der Fläschchen, in dem sich zerstäubtes Vulkangestein befand, und vermengte den grau schimmernden Inhalt mit dem Wasser. Dann wusch er sich, trocknete sich ab und als er fertig war, langte er unter den Tisch nach einer Kiste. Darin lagen Rasiermesser verschiedener Form und Größe, daneben ein Stein zum Schärfen der Klingen. Dirion nahm sich eine Schneide und rasierte sich die Bartstoppeln ab.
Als er fertig war mit seiner morgendlichen Körperpflege, schlüpfte er in eine Hose aus weinroter Baumwolle und zog sich eine Tunika aus schwarzem Samt über, die an Kragen und Saum mit einem schmalen Goldrand verziert war. Vor dem Fenster standen die Stiefel des Vortages und Dirion band sie fest um seine Schienbeine. Dabei sah er aus dem Fenster hinaus, welches gen Osten über die Gärten hinausging, hinter denen das Meer in der Sonne glitzerte.
Dirion konnte einige Druden sehen, die aus dem Gebirge kommend über dem Wasser kreisten und wohl darauf warteten, dass die Fischer auf ihren Booten einen Augenblick nicht auf ihren Fang achteten. Dann stürzten sich die Menschenvögel pfeilschnell auf den Fisch. Am Himmel über Albenbrück waren die Druden ein seltener Anblick geworden, denn die Bürger fürchteten sich vor ihrer Gestalt, halb Greifvogel, halb Frauenleib.
Doch eigentlich waren sie nicht gefährlicher als alle anderen Raubvögel auch, mal rissen sie ein junges Lamm auf der Weide oder ein Kaninchen vom Feld. Einen Menschen griffen die Druden jedoch nie an, aber die Bauern und Stadtbewohner jagten sie mit einer Erbarmungslosigkeit wie kein anderes Geschöpf der Lüfte.
Der Aberglaube ist euer Verhängnis , sagte Dirion im Geiste zu den Druden. Denn es gab von jeher Geschichten, dass die Wesen nachts in die Häuser einsamer Männer kamen und es mit ihnen trieben, während sie schliefen. Wer den Akt mit einer Drude vollzogen hatte, würde am nächsten Tag dem Wahnsinn anheimfallen, so der Volksglaube. Doch Dirion glaubte nicht an derartige Märchen. Wie viel Neues über das Wesen des Geistes hatten die Gelehrten doch an der königlichen Universität in den letzten Jahren herausgefunden! So war das Tollsein beim Menschen keine Folge vom Geschlechtsverkehr mit irgendwelchen Kreaturen, mochten sie auch noch so furchterregend erscheinen, sondern schlicht einer krankhaften Erwärmung der Gehirnflüssigkeiten des Wahnsinnigen. In den kommenden Jahrzehnten würde noch so manch anderer Spuk von der Wissenschaft entzaubert werden, glaubte Dirion.
Er verließ seine Kammer und schritt durch den Bogengang, ging eine Wendeltreppe hinauf, betrat einen anderen Gang, dessen Fenster mit buntem Glas verziert waren, und stand schließlich vor Kyjeras Gemächern. Er klopfte an die Tür und wartete auf eine Antwort. Als niemand ihn hereinbat, drückte er die Klinke runter und schob die Tür einen Spalt weit auf. Er wollte Kyjera und ihre Schwester nicht unschicklich belästigen, falls sie sich noch bei der Morgenwäsche aufhielten.
Doch das Zimmer war leer, soweit Dirion es überblicken konnte. Nicht einmal die Zofe war hier, um die Betten zu machen, also öffnete Dirion die Tür noch ein Stück und trat vorsichtig ein.
„Edle Damen? Seid Ihr zugegen?“, fragte Dirion in einem gekünstelt vornehmen Ton. Als er die Tür behutsam hinter sich schloss, erschrak er fürchterlich, denn plötzlich wurde er von hinten gepackt und an den Armen festgehalten.
Jemand musste sich hinter der Tür versteckt haben! Etwa ein Meuchelmörder, der auch die beiden Frauen überfallen hatte? Dirion wand sich geschickt aus dem Griff und drehte sich blitzartig um - bereit, mit bloßen Händen einen Kampf auf Leben und Tod zu führen.
Doch dann blickte er in das lachende Gesicht seiner Verlobten und sein Schrecken verflog. „Meine Großmutter würde dich erschlagen können, wenn sie wollte“, triezte Kyjera ihn lachend. Sie stand strahlend vor ihm, gewandet in ein einfaches grünes Kleid, dessen Mieder in reinem Weiß erstrahlte. Um den Hals trug sie eine goldene Kette mit einem Amulett über der Brust und ihre Haare wurden von einer ebenhölzernen Spange zusammengehalten.
„Du bist zu unvorsichtig“, neckte sie ihn, woraufhin Dirion sie fest packte und an sich zog. Kyjera stieß einen spitzen Schrei aus, doch dann legte er seine Lippen auf die ihren und küsste sie zärtlich. „…du Held“, flüsterte sie in sein Ohr.
„Ich würde jetzt gerne fortsetzen, was wir gestern Nacht begonnen haben“, antwortete Dirion mit gedämpfter Stimme. Sie grinste und wand sich aus seiner Umklammerung. „Ich fürchte, das müssen wir auf die Abendstunden verschieben“, entgegnete die junge Frau und öffnete die Tür, „wir sollten uns in den Festsaal begeben, wo sich die Gäste versammeln.“
„Aber um mich zu überfallen reichte die Zeit?“, fragte Dirion etwas ungehalten über den viel zu kurzen Kuss. Kyjera lachte wieder: „Wir wollen doch keinen schlechten Eindruck vor den hohen Herrschaften machen.“
Dirion zuckte mit den Schultern: „Es ist mir eigentlich ziemlich egal, welchen Eindruck die hohen Herrschaften von mir haben, solange ich es bin, der ihnen die fetten Ärsche vor den Triganern rettet.“ „Jetzt sei nicht so trotzig, es sind doch auch Freunde von dir dabei.“
Freunde? In diesem Punkt hatte Kyjera nun Unrecht, dachte Dirion. Er verstand sich zwar darauf, einen einigermaßen freundlichen Eindruck zu hinterlassen, auch bei den Edelleuten, die er für weniger ehrenhaft hielt, doch Freunde waren für ihn nur die Männer, welche mit ihm aufs Feld zogen und verstanden, was es hieß, dem Tod ins Auge zu blicken.
Er hatte keine Lust, weiter mit ihr zu diskutieren, also nahm er sie bei der Hand und sie schlenderten durch die Gänge des Schlosses hinunter zum Festsaal, der direkt am Innenhof lag.
Durch ein Fenster konnte Dirion sehen, dass mehrere Kutschen auf dem Hof standen und es kamen immer noch weitere an. Das waren die Ratsmitglieder, die sich nicht dauerhaft auf dem Schloss befanden, sondern zu den Versammlungen extra anreisten. Neben der königlichen Familie hatten viele Aristokraten ihre eigenen Gemächer, welche sie beinahe dauerhaft bewohnten. Doch die Ratsherren und -damen, deren Schlösser und Burgen sich in den angrenzenden Landen befanden, reisten nach einer Versammlung meist wieder ab, um dann im nächsten Monat zurückzukehren.
So auch Kyjeras ältere Schwester Ariadne, die vor kaum einem Jahr zur Markgräfin von Starrenberg und Schlehendorf gekrönt worden war. Ihr Vater, der berüchtigte Alexander von Schlehendorf, war gefallen, ohne einen Sohn gezeugt zu haben, wodurch die Regentschaft erstmals an eine Frau ging. Doch den Bewohnern der Mark war sie eine geliebte und hoch angesehene Fürstin. Sie stand mit ganzer Kraft für Fortschritt und Gerechtigkeit ein, was unter den vielfach korrupten Aristokraten des Reiches keine Selbstverständlichkeit war.
Als Dirion und Kyjera dem großen Festsaal näher kamen, wurde der Tumult aus Stimmen und Musik, der aus dem Haupteingang schallte, zunehmend lauter. Schließlich betraten sie den königlichen Festsaal, welcher bereits gefüllt war von Adeligen aus allen Landen.
Sie saßen oder standen an einer großen Tafel, die einmal quer durch den ganzen Raum ging. Durch die Seiteneingänge brachten Diener in feinsten Gewändern mächtige Amphoren mit Wein herbei, trugen Silbertablette mit Früchten und allerlei Naschereien und eine Gruppe von Musikanten stand auf einer Bühne, die gegenüber vom Haupteingang errichtet worden war. Sie spielten auf Saiteninstrumenten, Trommeln und Pfeifen eine fröhliche Weise.
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