Und so schwirrten noch etliche unbeantwortete Fragen in seinem Kopf herum, als er den Weg mit seinem Vater zurückging, der beide Türen wieder sorgfältig hinter sich verschloss. Am oberen Ende der Wendeltreppe angekommen, atmete er erstmals auf, denn endlich wurde die Luft spürbar wärmer als unter der Erde. Er triefte immer noch vor Nässe, die in seiner Kleidung und seinen Haaren hing. Als sie den Gang entlangliefen, durch den sie zur Wendeltreppe gekommen waren, rückte der Prinz mit den Fragen heraus, die ihn am meisten beschäftigten. „Gnorrin hat mich immer wieder mit einem Namen angesprochen, den ich nicht kenne. Was bedeutete er?“
„ Ariowist , richtig. So nennen die Unterirdischen ihre größten Anführer. Nur wer ein mächtiges Heer hinter sich vereinigen kann, bekommt bei ihnen diesen Titel verliehen“, erläuterte Arkil. „Und warum“, fragte Aldrĭn weiter, „vertraut Ihr diesem Zwerg? Und er Euch?“
„Es ist schon viele Jahre her, doch einst herrschten gänzlich andere Sitten zwischen den Alten Völkern und uns. Und ich halte es eben für weiser, sich ein paar Freundschaften aus diesen guten Zeiten zu bewahren. Auch wenn ich das am Hofe nicht vertreten kann“, meinte Arkil und Aldrĭn glaubte, einen wehmütigen Unterton in seiner Stimme zu bemerken.
„Ich verstehe.“ Doch als sie vorm Thronsaal stehen blieben, um sich für die Nacht zu verabschieden, hatte er noch eine Frage auf dem Herzen, die ihm sein Vater zuvor beantworten musste.
***
Dirion warf sich seinen Umhang über, als er den Pavillon verließ und in die kühle Nachtluft hinaustrat. Er warf einen Blick auf den Garten, der in einer gespenstischen Ruhe dalag. Die Rosenbüsche wurden vom fahlen Licht des Mondes beschienen, der inzwischen hoch am Himmel stand.
Es war jetzt höchste Zeit, sich in seine Kammer zu begeben und ins Bett zu legen, dachte er, sonst wäre es die zweite Nacht ohne erholsamen Schlaf gewesen. Morgen brauchte er einen wachen Geist, wenn er sein Versprechen gegenüber dem Grafen von Asyc einhalten wollte. Also ging er durch die Gartenanlage geradewegs zum Schloss, das in der Nacht noch riesenhafter wirkte, weil man nicht genau erkennen konnte, wo die Spitztürme endeten und die vorbeiziehenden Wolken begannen.
Nachdem sie noch eine Weile beieinander gelegen hatten, war Kyjera schon früher gegangen. Sie wollte diese Nacht in ihrer Kammer verbringen, wo auch ihre Schwester Ariadne schlief. Diese war am Abend eingetroffen, um der morgigen Ratsversammlung beizuwohnen.
Dirion dachte an die vergangenen Stunden, in denen er sich diesem wunderbaren Menschen so nah fühlen durfte und es erfüllte ihn eine Glückseligkeit, von der er hoffte, dass sie ihn zumindest bis in die Träume begleiten würde. Wenn er sie schon nicht ewig festhalten konnte.
Eilig schritt er durch den Innenhof hinüber zum Portal, das direkt zum Thronsaal führte. Von dort aus war seine Kammer rasch zu erreichen. Er ging eine breite Treppe hinauf, die zum Bogengang führte, als er plötzlich Stimmen hörte. Es war nicht ungewöhnlich für diese Zeit, dass sich Menschen durch das Schloss bewegten, dachte Dirion und erinnerte sich an sein eigenes Treffen mit Eristrian in der vergangenen Nacht. Doch er merkte auf, als er hörte, dass jemand seinen Namen aussprach.
„Wieso nicht Dirion?“ Das war ganz eindeutig die Stimme seines Bruders gewesen! Dirion verlangsamte seine Schritte und blieb schließlich ganz stehen, um kein Wort des Gespräches zu verpassen, das wahrscheinlich nicht für seine Ohren gedacht war. „Wie meinst du das?“ Das war sein Vater gewesen. Arkil und Aldrĭn schienen sich unmittelbar vor dem Thronsaal zu befinden, etwa zwanzig Fuß von Dirion entfernt.
Er war auf einer der oberen Treppenstufen stehen geblieben und lehnte sich an die Wand, um nicht gesehen zu werden. Er kam sich augenblicklich schändlich vor, wie er so seine eigene Familie belauschte, doch andererseits schienen die beiden etwas zu besprechen, das ihn zwar betraf, jedoch vor ihm geheim gehalten werden sollte! Warum sonst würde man eine so späte Stunde zur Unterredung wählen?
Jetzt hörte er wieder Aldrĭn sprechen: „Weswegen ist Dirion nicht derjenige, der den Apukunen bezwingen soll? Er ist erfahrener, mutiger und stärker als ich. Er ist listenreich und einer der ruhmreichsten Krieger überhaupt.“ „Es ehrt dich, wie du über ihn urteilst“, hörte Dirion den König antworten, „und auch ich war mir lange Zeit nicht im Klaren darüber, ob er nicht der Ariowist sei. Doch halte ich ihn auch für sehr ungestüm und jähzornig, wenn es um seine eigenen Ziele geht. Er ist ein großer Krieger, aber durch seine Erfahrung im Krieg ist ihm ebenso vieles verloren gegangen von dem, was den Ariowist ausmacht. Er geht nie unvoreingenommen an die Dinge heran, sondern sieht sie von einem weitaus überlegteren Standpunkt aus, als du es vielleicht tust. Dieser Meinung ist auch Gnorrin gewesen. Und außerdem…“, Arkil machte eine kurze Pause, „habe ich jetzt eine andere Aufgabe für deinen Bruder.“
Dirion verharrte weiterhin regungslos auf der Treppe, doch innerlich glaubte er, zu zerspringen; am liebsten wäre er auf der Stelle um die Ecke gebogen, um die beiden Heimlichtuer zu stellen, doch dann besann er sich eines Besseren und wartete ab, ob sie noch einmal auf ihn zu sprechen kämen. Und was hatte es mit diesem Ariowist auf sich, den sie nun mehrmals genannt hatten?
Die Antwort hielt Arkil prompt parat: „Es liegt in deiner Hand allein, den Frieden zurückzubringen, Aldrĭn. Du wirst über das Meer nach Triga fahren. Und dort wirst du dein Schicksal erfüllen. Doch zuerst…“, mit einem Mal war alle Feierlichkeit aus Arkils Stimme verschwunden, „wirst du dir trockene Kleidung anziehen, sonst holst du dir den Tod, noch bevor du dem Apukunen gegenüberstehst!“
Damit war ihr Gespräch beendet und Dirion schlich die Treppe wieder hinunter. Er hatte beschlossen, einen Umweg zu seinen Gemächern zu machen, denn er wollte weder Arkil noch Aldrĭn in seiner jetzigen Stimmung über den Weg laufen. Warum wollten sie ihn nicht einweihen? Glaubte der König etwa, dass er die Kritik an seiner Person nicht ertrüge, welche Arkil seinem Bruder gegenüber so offen formuliert hatte?
Dirion versuchte seinen Zorn im Zaum zu halten, denn er wusste, dass es nur sein verletzter Stolz war, der ihn so aufwühlte. Morgen wäre dies alles bedeutungslos, so sagte er sich, denn morgen würde er an Egrodt von Asycs Seite in der Ratsversammlung am wesentlich längeren Hebel sitzen als alle anderen. Und dann sollte Aldrĭn doch ihr großer Befreier werden! Dirion würde in der Zwischenzeit sein neues Leben einläuten und irgendwo in den nördlichen Landen auf seinem eigenen Gut eine Familie gründen.
3. Ein schicksalsträchtiger Beschluss
Es war früher Vormittag und die Sonne schickte bereits wärmende Strahlen durch das Fenster seiner Kammer, als Dirion erwachte. Er fühlte sich so erholt, wie selten in den letzten Monaten und er hatte sich vorgenommen, die Geschehnisse des heutigen Tages mit der größten Besonnenheit an sich vorbeiziehen zu lassen. Natürlich war er auf einige Unannehmlichkeiten gefasst, spätestens auf der Ratsversammlung am Nachmittag würde es zu heftigen Auseinandersetzungen kommen.
Doch wie die Sonne, die sich über dem Meer erhob, glaubte Dirion hinter dem Horizont eine strahlende Zukunft zu erspähen, welche mit jedem Tag ein wenig näher rückte, an dem er den Strapazen des Krieges trotzte.
Er ließ sich von seinem Kammerdiener einen Krug mit Wasser bringen und begab sich dann in die Waschecke seiner Gemächer. Dort war ein kleiner Spiegel an der Wand angebracht und auf einem runden Eichentisch stand eine Goldschüssel, um die herum kleine Fläschchen mit diversen Pulvern aufgereiht waren, ein Bimsstein, einige Schwämme und Baumwolltücher zum Abtrocknen.
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