Sie legte ihre Unterlagen für ihre Diplom Arbeit zur Seite und stapelte versunken, auf der Suche nach Hinweisen, seine Bücher durch, die sie sich aus seiner Wohnung besorgt hatte. Er hatte ihr in Spanien einen Zweitschlüssel überlassen, damit sie nach dem Kaktus sähe und den Briefkasten leere. Für Edda war die Schlüsselübergabe ein Liebesgeständnis gewesen.
Sie stieß auf C.G.Jungs Welt der Symbole und ihre Bedeutung im kollektiven Unterbewusstsein. Hier sollten sich diese Symbole auf die Psyche so auswirken, dass sie Assoziationen hervorriefen, welche die Vorstellungskraft mobilisieren und stärken. Mit dieser jeweils individuellen Imagination ließe sich der Glaube aufbauen. Das klang für Edda nachvollziehbar. Leider konnte man sich schwerlich ein Symbol des „All Eins“ bildlich vorstellen und schon gar nicht solch ein Etwas, das von Fausto auch als solches beachtet und täglich geschmückt werden sollte. Vor dem er vielleicht sogar meditieren würde. Ein sichtbares Symbol, stets an seiner Seite?
So legte sie sich die Theorie mit den Symbolen zurecht. Und dann entschied sie, ein Mandala für ihren Liebsten zu malen, ein einzigartiges, das seinem Glauben auf die Sprünge helfen sollte.
Und wie sah es mit ihrem eigenen Glauben aus? Edda überlegte, an was glaubte sie selbst, wirklich. Dabei fiel ihr nur die Liebe ein. Dafür, so entschied sie, benötige sie keine zusätzliche Fantasie oder die Reise in das kollektive Unterbewusstsein auf den Pfeilern der Symbole. Sie beschloss eine kleine Liste zu erstellen, an was sie glaubte oder gerne glauben würde. Ein Spiel auf einer äußeren Ebene, bei dem sie gedachte ihren Glauben überprüfen zu können. Es entstand nur eine Wunschliste, keine Glaubensliste. Sie hatte Wunsch mit Glauben verwechselt.
Eddas Gedankengänge wankten zwischen kindlicher Naivität und wissenschaftlichem Verständnis. Hin und Her. Die wenigen Kritiker ihrer Bilder warfen ihr vor, sie male zu symbolisch. Vielleicht hatte das seine Bedeutung, sehnte sie sich nach einem greifbaren Glauben? Eigentlich, wenn sie intensiv lauschte, fühlte sie, seit jeher, stark und sicher und ohne Zweifel, eine höhere Intelligenz in und über sich. War ihr das nicht Glaube genug? Sie müsste nur das Lauschen üben!
Über diese Sicherheit hatte sie nie zuvor nachgedacht, geschweige denn, sie in Worte verpackt. Und nun hatte Fausto an diesen Umrissen gerüttelt, und der zusätzliche Inhalt vieler seiner Bücher bohrte sich in die Tiefe und drang zurück in ihr Bewusstsein. Sie fühlte sich dadurch, wie eines wertvollen, unbewussten Geheimnisses beraubt. Der Vorwurf des fatalen Irrtums, in dem sie Faustos Überzeugung nach lebte, um sich mit Hilfe der Zuneigung zu einem Geliebten aus der Einsamkeit zu hieven, beleidigte sie.
Sie liebte ihn, ohne Wenn und Aber. Sie war bereit und würde gerne alle Erkenntnis der Welt verraten haben, inklusive sich selbst, nur um das Gefühl der unbedingten Zugehörigkeit zu Fausto, mit ihm an ihrer Seite leben zu dürfen. Ihr Wunsch nach Zugehörigkeit wollte nicht im „All Eins“ herumirren, er strebte unbedingt personengebunden einer Erfüllung zu. Das war offensichtlich nicht in Faustos Sinn, denn er war immer noch wie vom Erdboden verschluckt.
Edda war sehr beschäftigt mit ihrem Abschlussexamen. Es gelang ihr die Gedanken an Fausto weitgehend auf die Nächte zu verbannen, und wenn er sich störend zwischen ihr Lernpensum schob, praktizierte sie ihre neuerworbenen Kenntnisse der Atemübungen aus der Welt des Yoga. Sie zählte und schnaufte, abwechselnd aus ihrem linken, dann aus dem rechten Nasenloch, hielt die Luft an und versuchte so ihre Einsamkeit und Enttäuschung zu überwinden. Bis ihr schwindelig wurde. In der Nacht fielen die Erinnerungen über sie her, ungeschützt lag sie da und vermisste den Klang seiner Stimme.
„Der Einsame wird von unserer Gesellschaft als Kranker dargestellt“, hatte Fausto behauptet. „Wie ein Eimer Rohöl hunderttausende von Litern Trinkwasser verderben kann, verdirbt er sein funktionierendes Umfeld. Der Einsame ist ein Glied in der Kette, und so wie ein fauler Apfel im Obstkeller kann er den anderen schaden, die Gesellschaft anfaulen. Anstatt sich auf den Konsum zu konzentrieren, rührt er an unerwünschte Wahrheit, stiftet Unruhe. Das wird als krank eingestuft. Der Einsame sollte zum Wohle der Gesellschaft vor seiner Krankheit bewahrt, therapiert oder am besten ausgestoßen werden, verbannt. Beinahe ein Todesurteil, oder schlimmer noch, wie es damals schon Ovid empfand, als man ihn an das Schwarze Meer abschob.“
Die Sache mit Ovid hatte Edda gleich nachgelesen, als sie aus Spanien zurückgekommen war. Sie stellte sich nun die Strände des Schwarzen Meeres vor, bevölkert von Einsamen. Unüberschaubare Ladungen von faulen Äpfeln kollerten begleitend am Wellenrand vor und zurück.
So also bewahrte man das Gemeinwesen von dieser, besonders von Politikern gefürchteten Pest, die anscheinend auch in Edda hauste. Man versuchte mit dem Drill dagegen schon im Kinderhort zu beginnen. Gesellschaftliche Solidarität sollte die wichtigste Bedingung darstellen, um nicht als bemitleidenswert oder sogar anormal zu gelten. Jeder Einzelne musste als Teil des Ganzen erkennbar sein, ansonsten bedeutete er eine Gefahr für die Anderen, für die Normalen, für das System in dem sie funktionieren sollten.
Das hatte man verpasst Edda klarzumachen, sie hatte als Kind allein im Wald herumgespielt, gehaust. Deshalb also, habe ich immer krampfhaft versucht irgendwo zugehörig zu sein, hatte sie damals zu Fausto gesagt.
„Das Unbehagen der Einsamkeit begleitet die Menschheit nun einmal seit ihrer primitivsten Zeit“, hatte Fausto sie getröstet. „Sie begleitet jeden Menschen! Es sei denn, er spielt, von der Furcht getrieben, das Theater des „Sich Betrügens“ perfekt. Der erste Schritt dagegen ist ein wenig erfolgreicher doch unaufhörlich praktizierter Versuch der Einsamkeit mit dem Liebeswunsch zu begegnen, um ihr zu entkommen. Damit wird aber nur die Möglichkeit des individuellen Erkennens endgültig verraten.“ In diesem Punkt schien sich Fausto besonders sicher zu sein, er hatte ihn immer wieder angesprochen.
Aber wieso denn endgültig, meinte Edda damals, man könne doch, wenn man es einige Male ausprobiert hätte und dann bemerke, dass man auf diesem Weg der wahren Einsamkeit nicht entfliehen könne, aufgeben, von vorne beginnen und immer noch die andere Richtung einschlagen, einen Neubeginn wagen. Das könne man schließlich immer wieder im Leben.
„Nein“, hatte er geantwortet, „man verliert sich in der Menge und findet nicht mehr den nötigen Ausgangspunkt, man verliert die Verbindung zum instinktiven Vertrauen in die Einsamkeit, man verliert sich selbst in der Masse.“
Ja was denn nun, hatte Edda gedacht, Masse oder Individuum? Sie wollte die Sache nicht im Ganzen erfassen, ihren Traum nicht verhöhnt davonschleichen sehen. Fausto bestand auf der bewussten Einsamkeit, als wichtigste Basis für die geistige Entwicklung. Das konnte er ernsthaft behaupten, vor einem rund getrunkenen Deckel, mitten in der vollbesetzten Kneipe sitzend.
Edda wusste inzwischen von Vielem etwas, von Manchem etwas mehr, aber von nichts genug, um behaupten zu können, sie sei Expertin. Kein Gebiet gehörte zu ihr. So wie sie später viele Länder kennenlernte aber nirgendwo wirklich zugehörig war, kein Zuhause empfand. Geographisch blieb sie überall eine Fremde, und kein Experte akzeptierte sie unter Experten. Nicht einmal Freundschaftsexperten hielten sie zuständig für Freundschaft. Es gab genügend Menschen, die immerzu von ihren zahlreichen besten Freunden zu berichten wussten. Die für diese durchs Feuer gingen, sich eine Hand abhacken ließen oder sogar beide Hände der Glut zu opfern bereit waren. Edda hatte solche Freunde nicht, keiner handelte mit seinen Gliedmaßen im Vertrauen auf die Aufrichtigkeit ihrer Freundschaft. Doch sie erinnerte sich mit zärtlicher Zuneigung an ihre kleine Schwester, die sich todesmutig, mehr als einmal, mit gesammelter Kleinkindkraft zwischen Edda und ihren gemeinsamen Erzeuger geworfen hatte, um seine von Schlägen gesteuerten Erziehungsversuche an Edda zu verhindern. Die Kleine hatte dem Vater gegen das Schienbein getreten und sich mit einer Heidenangst zwischen ihn und Edda geworfen. Sie war übrigens nie getauft worden. Einmal hatte sie sich in seiner Wade festgebissen um ihn abzulenken, um Edda zu beschützen.
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