Er trampelte sie bis vor eine gemütliche Kneipe, in der sie einen Jenever auf den Fisch kippten. Edda war so beschwingt, dass sie nicht einmal ans Kotzen dachte, obwohl der Heringsschwarm in ihrem Magen unruhig hin und her schwamm. Sie fühlte sich erregend hingezogen zu diesem Fremden, warf alle Bedenken über Bord und wollte seine Nähe. Sie saßen einige Stunden zusammen, wobei hauptsächlich sie das Gespräch unterhielt. Dabei gelang es ihr zu verschweigen, dass sie kein einziges Werk seines Schriftsteller Favoriten kannte. Einem, vor ewigen Zeiten verstorbenen Poeten aus Portugal. Sie hatte das Zitat in Erinnerung gehabt, zufällig herausgeklaubt aus einer Literaturzeitschrift am Bücherstand im Bahnhof. Edda bemühte sich ihren Begleiter zu fesseln. Er zeigte sich amüsiert von ihrem Geplauder. Es roch nach Seemannsgarn.
Ein Sonnenstrahl schlich sich durch das Lindenlaub über der Gracht, fiel durch das Fenster direkt in Eddas Gesicht. Ruben saß ihr gegenüber. Sie wusste, dass dieser Lichtstrahl ihre Augenfarbe faszinierend erscheinen ließ. Edda war voll im Einsatz, sie rückte der Verzauberung ihrer Augenfarbe nach. Langsam, zentimeterweise rutschend, dem Rhythmus der Zeit gehorchend, bot sie dem goldenen Strahl ihre Iris. Etwas weniger spektakulär als ein Klopfen an den Lampenschirm, doch scheinbar nicht weniger erfolgreich. Ruben sah ihr in die Augen, während sie von einem Urgroßvater sprach, der bei Kap Horn sein Bein verloren hatte. Sie rutschte kaum merklich, bis es nicht mehr ging. Beinahe wäre sie von der Holzbank geplumst. Sie konnte eine betörende Schauspielerin sein, die den Blick hinter die Kulissen wie zufällig zuließ, und den Zuschauer sich einzig fühlen ließ. Ruben benötigte diese scheinbare Einzigkeit nicht.
Sie verbrachten einen langen Nachmittag zusammen, bis in den Abend hinein. Er fuhr sie danach mit seinem Fiets zur Pension und sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Sie sprang von der Herrenstange. Ruben meinte, ungeheuer nett lächelnd, sie könne sich übrigens diese Rutscherei sparen, ihre Augen seien auch ohne den Sonnenglanz beeindruckend. Dann wuschelte er eine halbe Sekunde mit der Hand über ihr Haar und fuhr davon. Diese Haargeste fand Edda enttäuschend. Ihr Erröten wegen der Lichtentlarvung sah er nicht mehr.
Am nächsten Tag, ihre Bekannten waren ärgerlich abgereist, sie hätte keinen Teamgeist hieß es, überkam sie große Ernüchterung. Vor lauter Selbstdarstellung, vielleicht auch aus Furcht Unerwünschtes zu hören, hatte sie kaum etwas über Rubens Privatleben erfahren. Nun, als er ihr seine drei Kinder vorstellte, war sie sprachlos. Er hätte gestern leider vergessen, dass er heute mit dem Abholdienst der Kinder beauftragt war. Sie hatten einen Zahnarzttermin. „Spangenkram“, sagte Ruben, „wir sind gerade zurück.“
Bilderbuchkinder, zwischen elf und fünfzehn. Auch eine holländische Bilderbuchfrau erschien wenig später auf der Bildfläche. Freundlich, rund und blond.
Es fehlt nur das weiße Spitzenhäubchen, dachte Edda, die kurze Nasenspitze reicht ihm bis ans Brustbein. Eddas Augenaufschlag und ihre Wahrnehmung hatten sich blitzartig verwandelt, von einer Schleiereule, in die eines hungrigen Habichts. Sie war auf den ihr so bekannten Ast des ordinären Vergleichens geflattert und beschrieb sich selbst als würdiger, als viel passender zu Ruben. Sie wurde mit Herzlichkeit von dieser Frau begrüßt. Das war Edda fremd, da sie üblicherweise immer als Rivalin behandelt wurde, sobald eine Frau sie erblickte. Diese Begrüßung empfand sie fast als beleidigend, sie wurde von ihr sogar für den nächsten Tag zum Kaffee eingeladen.
Bemerkte denn niemand hier, dass sie in den Mann verliebt war! Edda wunderte sich über die höfliche Freundlichkeit seiner Frau. Aus ihren strahlend blauen Augen, Sternchenaugen, blickte, nein blinkte, etwas Wissendes, das eher dem Blick einer gläubigen Nonne nach einem heimlichen Date mit Jesus Christus ähnelte, als einer Mutter mit drei in der Pubertät befindlichen Töchtern. Sie blickte ihren Mann sacht und devot an, als sei er ein kranker Heiliger, umarmte ihn kurz und bat um die Wagenschlüssel.
Edda war erstaunt, dass dieser mollige, hübsche Engel einen Führerschein besaß, sich anscheinend im weltlichen Leben zu bewegen wusste. Ihr Haarschnitt glich dem einer Klosterbewohnerin, sie trug aber einen sehr kurzen Rock mit Rüschenbund am Saum, was sie noch kürzer und kugeliger erscheinen ließ.
Vielleicht, dachte Edda, wollen ja manche Menschen gerne noch kleiner erscheinen und eiförmig, Größe ist bekanntlich nicht immer schön. Sie konnte es nicht lassen!
Sehr viel später erfuhr Edda, dass Ruben und Marietta nicht verheiratet waren, weil er das nicht für nötig befunden hatte. Ruben war noch ein Schüler der Oberstufe des Gymnasiums gewesen, als er zum ersten Mal Vater wurde und mit zweiundzwanzig zum dritten Mal. Das reichte ihm als Experiment. Marietta hatte lange auf eine magische Kraft ihrer Zuneigung zu Ruben vertraut. Seit sie ihn als Vater ihrer Kinder auserkoren hatte, gedachte sie ihn mit dieser Magie zu infizieren. Ruben war resistent gegen ihren Virus, empfand die Situation aber auch nicht als negativ, er liebte die Nähe zu seinen Kindern, nur das zählte. In den letzten Jahren ihres gemeinsamen Haushaltes fiel seiner Frau nichts anderes mehr ein, als ihn ständig mit geduldigem Lächeln nach seinen Wünschen zu fragen. Nachdem die zweite Tochter ihren ersten Liebeskummer an seiner Brust ausgeweint hatte, zog er zu seiner Mutter. Es hatte kein böses Wort gegeben. Ruben zankte nicht. Niemals!
Wie Edda später erfahren sollte, war ein unordentliches Bett am Mittag, für Marietta ein Symptom für generelle Liederlichkeit und der Verlorenheit zu Gott. Wie war es möglich, dass ein Mann wie Ruben mit dieser Frau drei Kinder gezeugt und ihr so viele Jahre zur Seite gestanden, bei ihr verweilt hatte. Und dann war sie auch noch Krankenschwester! Edda war diese langjährige Partnerschaft unbegreiflich, seine Zuverlässigkeit ließ sie nicht unbeeindruckt, genau so etwas suchte sie.
Später schnitt sie Ruben gegenüber ein Fausto-Thema an, der beantwortete das, was Fausto als Phänomen bezeichnet hatte, knapp und sachlich aus der Sicht des Mathematikers. Für ihn war alles Geschehen erklärlich, und wenn es das tatsächlich einmal nicht war, suchte er nicht nach einer Erklärung. Er krallte sich nicht an Unbeweisbarem fest, da es für ihn keiner Klärung bedurfte. Trotzdem, er wich nicht aus. Ruben konnte sogar romantisch sein, wie sie später herausfand, er konnte Trauer oder Freude ausdrücken, aber Realität wachte stets an seiner Seite. Edda erschien es, als glaube Ruben nie, er wusste oder er wusste nicht. Es gab das Nichts ebenso, wie die Null existierte, nur sein Begriff war etwas weniger eingeschränkt. Das hatte mit Mathematik zu tun, als übergeordnete Macht der Metaphysik, von der Ruben gar nichts hielt. Dort stürzte man sich seiner Meinung nach nur auf Spekulationen. Er hielt ebenso wenig von der Rederei über die Seele und schon gar nichts von ihrer Kenntnis über die Vorexistenz. Ruben hatte sich mühelos auch durch die Platoniker gefressen, doch das Prinzip der Bewegung schrieb er nicht der Seele zu. Es sollte für ihn pure Physik sein, so wie der Äther in die Welt der Chemie gehörte, zu den Oxyden der Kohlenwasserstoffe und nicht ins Himmelreich.
Edda hörte gerne seine knappen Kommentare und dachte, die beiden Männer, die sie nun liebte, könnten gegensätzlicher nicht sein. Immerhin, mit Gegensätzen kannte sie sich aus, sie lebten in ihr. Aber sie irrte mit ihrer Meinung, sie hatte noch nicht die Nähe dieser beiden Gegensätze erfasst.
Ein schönes Wochenende, ein verlängertes Wochenende und ein neues Glück. Edda war wieder zum Leben erwacht, sie hatte wahrhaftig ihren Fausto vergessen, zuerst für einige lange Minuten und dann sogar für Stunden. Ab und zu hatte er sich noch einmal in ihre Gedanken gedrängt, selbst auf der Fahrradstange war er kurz mitgefahren. Edda fühlte sich wie genesen nach einer langen Krankheit, als sie am Dienstagabend zurückkam. Mit ihrer Reisetasche und einer Einkaufstüte traf sie auf ein schnelles Bier im „Schornstein“ ein. Da saß er, Fausto.
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