„Bei einer größeren Ansammlung von äußerlich schön zu nennenden Menschen, was rein theoretisch vorzustellen wäre, wirkt der einzelne nicht mehr schön. Er verliert den Anspruch auf die Schönheit durch die Relativität, durch den fehlenden Gegensatz. In der Bewertung verliert er sich. Die Gewohnheit zu messen, hat ihren Reiz eingebüßt. Doch äußere Hässlichkeit in der Masse bleibt bestehen, denn Negativität mit erhöhtem Vorkommen gewinnt an Macht. Es sieht so aus, als ob das Schlechte nicht kämpfen muss, um sich zu behaupten. Innere Schönheit allerdings gewinnt, je häufiger sie auftritt. Ein Rudel gutartiger, harmonisch ausgeglichener Menschen, die den Kampf der Natur nicht als inneres Schlachtfeld zulassen, was leider auch nur eine rein theoretische Vorstellung sein kann, würde für jedermann Empfinden als Außenstehender, ob er es persönlich gut findet oder nicht, als gut bewertet. Auch ohne einen Massenmörder in der Mitte haben zu müssen, wird das Gute erkannt. Das echte moralische Empfinden braucht eigentlich keine sichtbaren Gegensätze. Es ist aber leider zu einer von der Gesellschaft angespitzten Modifikation verschlampt, die sich dann, wie vererbt in den Geistern manifestiert hat. Von Jahrhundert zu Jahrhundert spitzer. Einst fraß man Menschen mit Haut und Haar, besonders die Herzen wurden den Verehrenswertesten der Lebensgemeinschaft zu Füssen gelegt, das war edel, das war gut. Heute gilt es schon als unmoralisch einen toten Spatz auf der Straße liegenzulassen. Es gibt sehr viele plattgefahrene Spatzen. Ich wollte nur sagen, die Moral, je zivilisierter sie ist, schlendert der totalen Degeneration entgegen, ihr Befolgen ist reines Gesetz. Der Abgrund zwischen beidem vergrößert sich beängstigend.“ Edda hatte den deprimierenden Tonfall in seiner Stimme nicht überhört.
„Eine einseitige Sicht“, sagte sie, „die Moral bestimmt doch unsere Welt. Sie ist der Motor der Zivilisation, der Kultur, der Grundstein unserer Gesetze. Der Grundstein jeder Gesellschaft. Moral ist flexibel, nicht falsch oder richtig, sie vertritt einfach nur die jeweilige Auffassung eines Stammes, einer Nation oder eines Kontinents meinetwegen. Sie hat alle Macht, denn wenn man gegen sie verstößt, meldet sich die Rechtfertigung oder das Schuldgefühl. Sie sorgt dafür, dass mehr Gesetze entstehen, und dass Menschen, die gegen sie verstoßen, bestraft werden.“ Wieder erstaunte ihn ihr kindliches Gemüt.
„Da sagst du es ja“, antwortete Fausto, „mehr Gesetze, da der Wunsch gegen die Moral zu verstoßen, in jedem Menschen stärker vorhanden ist als er zuzugeben bereit ist. Sobald sich ungesehen die Gelegenheit ergibt, bricht man gerne die Gesetze der Moral. Menschen sind im Grunde nicht gut oder böse, sie werden nur eingeteilt in jene, die nur in Gedanken die Moral überspringen und jene, die das in die Tat umsetzen. Nur die Tat trennt sie voneinander.“
„Aber wieso n u r die Tat“, protestierte Edda, „sie ist doch das Ausschlaggebende, nicht umsonst heißt es, an ihren Taten werdet ihr sie erkennen.“
„Nein, an ihren Gedanken wären sie zu erkennen. Sie kennen sich zwar meist nicht einmal selbst, aber sie sind lange nicht so gut, wie sie behaupten, nur weil sie ihre antimoralischen Gedanken nicht ausleben. Genau Jene sind die von mir so gefürchteten Moralisten, welche das gesunde moralische Empfinden enthauptet und über den Stumpf ihre staatlichen Gesetze gestülpt haben.“
Eines Tages wurde Fausto von seinem Verlag zurückbeordert, er musste innerhalb weniger Stunden abfliegen. Sein Auto, von Edda inzwischen wie ein vertrauter Mitwisser angesehen, wurde in einen Autozug verladen. Sie hatten in seinen Polstern oder auf der Motorhaube rangelnd, allerlei verrückte Sachen angestellt. Eine Fahrt nach Hamburg, auf den eigenen vier Rädern, hätte dieser Kumpane nicht mehr bewältigen können.
Edda wurde von Fausto am Flughafen abgesetzt, ihr Flug war einige Stunden früher angesagt als seiner. Er verabschiedete sich kurz und verschwand aus ihrem Blickfeld, ohne sich auch nur einmal nach ihr umzudrehen.
Danach sah sie ihn monatelang nicht, auch hörte sie nichts von ihm. Aber sie hatte einen großen Schatz in sich geborgen, mitgebracht. Es war ein heilendes und gleichzeitig berauschendes Zugehörigkeitsgefühl Fausto gegenüber, ein Gefühl, das sie auch ohne seine Anwesenheit erfüllte. Es war, als könne sie nur in Gedanken an ihn, richtig atmen. Fausto besetzte sie, besser gesagt, sie besetzte sich mit ihm. Edda nannte es Liebe.
Ihr Cousin, der Psychiater, dem sie ihr Gefühlschaos anvertraute, attestierte ihr Idolatrie ersten Ranges, über den Vater direkt auf den Liebsten übertragen.
Edda sah es weniger krank als abenteuerlich rosarot. Sie stürzte sich in die Literaturwelt des Yoga, erfuhr von Meistern und etwas weniger meisterlichen Besserwissern über das Sein. Sie orientierte sich mit großer Skepsis und fand ihren Fausto gar nicht mehr so abgehoben. Schon nach dem Verschlingen weniger dieser Bücher, wollte sie am liebsten nach Indien abreisen, natürlich nicht ohne ihn. Doch ihr Liebster war unauffindbar. Außerdem stand ihr Abschlussexamen einer Indienreise im Weg. Sie schob Philosophie und Yoga zwischen ihren Uni-Kram.
„Der Individualismus ist für die Vollkommenheit wichtig und ebenso notwendig wie der Gruppengeist“, las sie. Hatte Fausto das in Verbindung mit seinem Selbst-Ideal nicht anders gesehen?
Dabei versuchte Edda das Wort Vollkommenheit zu übergehen, ähnlich dem „Ideal-Seiner-Selbst“, und es durch etwas weniger Erschreckendes in Gedanken zu ersetzen. Sie musste sich Mühe geben nicht das ganze Buch wegzulegen, nur wegen dieses einzigen Wortes, das ihr gegen den Stich ging. Sie wollte über Einsamkeit und Individualität lesen, von „Experten“ darüber erfahren, von Leuten, die sich damit auskannten, die der Einsamkeit etwas Positives abgewinnen konnten, die in die Tiefe geblickt hatten. Sie erwartete ein fertiges Rezept in den Büchern zu finden, aber wenn man schon gleich am Anfang von Vollkommenheit sprach, fühlte sie sich fehl am Platze. Fehl in diesem Buch, bei diesem Denker. Edda zwang sich weiterzulesen, obwohl sie nicht vollkommen werden wollte. Sie gestand das einem Baum zu oder einer Landschaft, aber bei einem Menschen hielt sie das für unmöglich und auch unnötig.
Zurück zu Gruppengeist und Individualität. Beide Kräfte, so las sie, ergäben zusammen das berühmte anzustrebende Gleichgewicht.
Aha, diese Vollkommenheit sollte also nur dem Gleichgewicht zugeschrieben werden, nicht dem Menschen direkt! Sie hatte also wieder übereifrig kombiniert, einem Satz ihre Interpretation untergeschoben, bevor sie den nächsten las. Fausto vertrat die Gruppe, die ganze Welt und alles was nötig war. Edda war das Individuum, welches die Kräfte, wie vorgeschlagen, zu vermischen gedachte. Sie verstand darunter eine symbiotische Bindung und betitelte diese mit Liebe. Ihr Ideal, zwei ineinander vernarrte Menschen, die nur sich sahen und sonst niemanden liebten. Nach Faustos Meinung, ein Egoismus zu zweit. Sie schwebte in ihren Gedanken über die Buchseiten hinaus und starrte ins Leere, dachte an einen von Faustos Monologen, dem sie unwillig gefolgt war und ihn trotzdem nicht aus ihrem Kopf verbannen konnte. Erwartete er von dem Zusammenspiel zweier Menschen, die sich nahe gekommen waren, wirklich etwas so anderes als sie? Sie erinnerte sich an seine Worte.
„Zwei Menschen, die ihre Trennung vom „All Eins“ so lösten, dass sie gemeinsam in der Illusion schwebten nicht allein zu sein, die Fremdheit des Anderen einfach mit ihren Projektionen übermalten, lebten schlicht und einfach im Irrtum.“
Edda empfand schon das Wort „All Eins“ als ihren Feind. Sie hatte auch den Eindruck, wenn er von diesem „All Eins“ sprach, dass er das Wesentliche darüber zwar intellektuell erfasst zu haben schien, aber fühlte er es auch? Fehlte es ihm vielleicht an Glauben? Faustos Gesichtsausdruck veränderte sich, wenn er dieses Wort erwähnte, das war ihr aufgefallen. Der Zug um seinen Mund wurde leicht bitter oder sogar traurig. Eine Trauer in Begeisterung, nannte sie es. Als empfinde er es als schmerzhaft von dieser so gelobten Art des Seins getrennt zu sein. Schmerz, mit der Begeisterung der Sehnsucht gepaart. Edda überlegte, wie man seinem Glauben zur Geburt verhelfen könne.
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