Edda ließ sich in seine Welt fallen. Sie fuhr mit ihm in seinem flachen Wagen, der noch flacher geworden war. Fausto hatte wenige Abende zuvor, an einer unübersichtlichen Kreuzung eine rote Ampel übersehen. Er zeigte sie Edda später, man konnte sie wirklich nur sehen, wenn man wusste, dass sie dort stand.
Eine unmögliche Ampel, bestätigte Edda eifrig, es sei wirklich nicht seine Schuld, dass er dadurch unter einen Containerlastwagen geraten war. Wie durch ein Wunder, mit nur einem gebrochenen kleinen Finger und einer Beule an der Stirn, war er unter dem Riesenlaster aus seinem Wagen hervorgezerrt worden. Nach diesem Akt waren der Lastwagenfahrer und Fausto, eng umschlungen in die nächste Bar gewankt, und alle am Unglücksort Anwesenden feierten seinen neuen Geburtstag. Als die Guardia Civil endlich eintraf, waren alle so betrunken, dass man gar nicht auf den Gedanken einer Blutkontrolle kam. Sie hatten vollstes Verständnis und hätten nach dieser Todesnähe auch erst einmal jeden zu einem „Cientotres“ eingeladen. Er hat für mich überlebt, kam es Edda in den Sinn.
Der Flitzer war vorsichtig hydraulisch wieder aufgerichtet worden, provisorisch. Er sollte aber nicht schneller als sechzig km/h gefahren werden. Fausto fuhr schneller. Für Edda war es eine Traumfahrt, sie lehnte sich zurück und schwebte im offenen Cabrio die kurvige Küstenstraße entlang. Direkt in die untergehende Sonne hinein. Ab und zu brach sich das Licht und zitterte durch vereinzelt auftauchende Dattelpalmen, verwandelte sich vor ihren Augen in einen Sternenwald. Sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben bewusst das Gefühl des absoluten Glücks, so wie sie sich Glück vorstellte, und sie hatte es nicht nur aus einer Vorfreude heraus. Jetzt konnte die Welt untergehen, sie hatte gelebt. Das waren Sekunden, vielleicht auch nur Bruchteile davon, dass sie sich so weit vorfühlte. Sie war dem Leben dankbar, hatte die Lösung vor Augen gehabt und kam mit diesem Erlebnis zurück zu Fausto, sah ihn von der Seite an und sprach etwas benommen, wie an sich selbst gerichtet.
„Was zum Teufel ist Liebe und warum ist sie so schön und trotzdem so tragisch?“ Edda hatte einen Startschuss abgefeuert, ihn aufgefordert, ihr mit philosophischem und spirituellem Geplänkel unter die Arme zu greifen, als hätte er auf diesen Startschuss gewartet, als sei er auf diese Frage vorbereitet gewesen.
„Liebe ist nicht schön“, sagte er ernst, „aber sie erzeugt Schönheit. Liebe ist auch keine Erotik oder was man ihr sonst noch alles so gerne unterschiebt. Die Liebe lässt uns in eine Unendlichkeit reisen, eine Unendlichkeit, die wir unbewusst ersehnen. Sie schneidet uns währenddessen aber nicht ab von der Welt, sondern lässt uns gleichzeitig das weltliche Dasein fühlen. Sie kann von dem unerwünschten Wissen der Vergänglichkeit befreien und Augenblicke zu Ewigkeiten werden lassen.“
Genau das hatte Edda gerade erfahren, war es möglich, dass er das bemerkt hatte? Fausto zündete sich eine Zigarette an, er fuhr langsamer. Wie in einzelne kleine Geister zerteilt, schwebte der Qualm aus dem Cabrio.
„Der Unterschied, zwischen dem Gefühl der Liebe und der Idee der Liebe, ist erschreckend“, sagte er. Edda liebte den Ton seiner Stimme, aber der letzte Satz wirkte etwas bedrohlich auf ihre Stimmung.
„Liebe birgt den Anspruch auf eine Begegnung der Seelen, wenn das stattfindet, wenn ihre Stimmen sich verständigen, ist die Liebe unsterblich. Es gibt eben nur Liebe oder keine Liebe, alles andere sind Reflexionen oder falsche Wunschvorstellungen. Das habe ich mir nicht ausgedacht, es ist eine überlieferte Weisheit, der ich nach bescheidenen Überlegungen zustimme. Auch kann die Liebe niemals tragisch sein, Edda, um auf deinen Seufzer zurückzukommen, die Tragik zeigt sich eher dadurch, dass unter ihrem Namen eine Erwartung gelebt wird, die zwangsläufig zu Enttäuschung führt. Man hat sich selbst getäuscht und wird enttäuscht, aufgeweckt, zurück in die Realität geworfen. Das ist tragisch, nicht die Liebe. Doch selbst die Illusion der Liebe, die sogenannte rosarote Brille, kann eben schon verzaubern, sie befreit dich zwar nicht von der Zeit, doch sie kann eine Lichtung dort hineinschlagen und du erhaschst den begehrten Blick in zeitlose Ebenen. Das kann leicht zur Sucht werden, hat aber mit Liebe wenig zu tun. Ich kann nicht aus Erfahrung sprechen, ich habe mich diesem Phänomen noch nicht genähert. Das muss wirklich nicht sein!“
Fausto nahm einen langen, ruhigen Zug aus seiner Zigarette. Er sog niemals gierig daran. Er fuhr wieder schneller. Der Fahrtwind fegte den Qualm nun stürmisch davon. Keine kleinen Geister mehr. Sie schwiegen lange Minuten. Dann schielte Fausto unsicher zu Edda hinüber, hatte sein Gerede sie verwirrt? Vielleicht sollte er ein etwas freudigeres Thema anschneiden. Sie wirkte abwesend, als wolle sie sich zurückziehen. Fast als sei sie beleidigt. Oder traurig? Er kannte sie kaum.
Dann brach er das Schweigen und sagte, wie sehr er sich über ihre Anwesenheit freue. Er erzählte auch, warum er sich nach Spanien zurückgezogen hatte und schweifte wieder ab, rutschte beinahe in ein Referat hinein.
„Das Bedürfnis sich zurückzuziehen“, meinte er, den Blick auf den Straßenverkehr gerichtet, „ist erstaunlicherweise etwas Außergewöhnliches, eher selten für einem gesunden Menschen. Es wird so viel von der Selbstfindung geredet, das ist aber in der Masse schwer möglich, da die Gesellschaft auf die freie Entwicklung des individuellen Geistes einen zu hohem Druck ausübt. Der Gruppengeist hat zwar eine notwendige Energie für das Individuum, doch sollte man sich nicht zu sehr mit ihm identifizieren, sondern sich zu trennen wissen. Man kann sehr leicht, durch den Einfluss dieser Kräfte gesteuert, am Bewusstwerden gehindert werden.“
Edda war erstaunt, wieso sprach er jetzt von Gesellschaft und Masse, in dieser zauberhaften Zweisamkeit!
„Ebenso lehne ich eine enge Bindung an einen Menschen ab. An eine Partnerin“, schob er schnell hinzu. Aha, jetzt kommt es, der Eremit auf großer Fahrt, dachte sie.
„Es ist mit vielleicht lebenslanger Anstrengung verbunden, ein wirklich individuell geformtes Ideal aufzubauen, es sich regelrecht zu erschaffen. Ein Ideal, das nicht anfällig ist für Manipulationen. Ein Ideal-Seiner-Selbst, für das eigene, das innerste Empfinden. Für die richtige Anwendung des Verstandes, der Liebe und natürlich auch der Macht. Das ist eine eigene Schöpfung und kann niemals aus dem Geist der Masse heraus geboren werden.“
Auch diese Aussagen hatte er von einem indischen Weisen übernommen, dessen Name Edda später noch sehr vertraut werden sollte. Aber vorerst hielt sie nicht viel von dieser Anstrengung, die eigenen Begierden zu überrumpeln, um sich mit etwas Edlem in der Zukunft zufrieden zu geben. Etwas, was wahrscheinlich sowieso nicht vor dem Greisenalter zu erlangen war. Sie wollte jetzt genießen, dafür würde sie ihre Seele verkaufen. Leicht trotzig und sanft überheblich antwortete sie ihm.
„Das mit dem Ideal hört sich gut an, obwohl mich das Wort für diesen Begriff abstößt. Es kommt mir überheblich vor, auch ein bisschen wie etwas Wurzelversprechendes, etwas für Haltsuchende. Falls das aber wirklich der Weisheit Anfang sein sollte, gilt es eben nur für einen selbst, wie du schon sagtest. Man sollte es mit Sicherheit anderen Menschen nicht aufdrängen, schon gar nicht missionarisch unterjubeln. Außerdem habe ich zu vernehmen geglaubt, dass du einen großen Bogen um die Liebe machst?“
Eddas Aggressionen pflegten immer noch, schon beim kleinsten Anflug von Lehrerton in der Stimme des Gesprächspartners, zu erwachen. Diesen Ton hatte sie soeben aufgefangen. Sie griff neuerdings in einem Gespräch auch gerne nach dem Gegenteil, oft auf Kosten ihrer eigenen, mühselig zusammengeflickten Meinung oder Interesses. Die Phase der verbalen Anbiederung war vorüber.
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