Gut, dass das Zelt schon steht, dachte er auf dem Weg zu Bernd. Ein Viermannzelt hatte zur damaligen Zeit wirklich enorme Ausmaße und war mit Innen- und Außenzelt alles andere als schnell und leicht aufzustellen. Dazu benötigte man neben einer gewissen Erfahrung auch eine Vielzahl von helfenden Händen. Ansonsten konnte es leicht passieren, dass der Aufbau eines so großen Zeltes zu einer ebenso großen Herausforderung wurde. Hiervon legte auch das HB-Männchen im Fernsehen regelmäßig Zeugnis ab.
In ihrem kleinen Ferienlager hatten sich die drei schnell eingerichtet. Jetzt hockten sie gemütlich im Eingangsbereich des Zeltes, in dem sich der angenehm warme Abendwind fing. Sie bequatschten gerade aufgeregt ihre bisherigen Ferienerlebnisse, als Bernd ganz beiläufig, als sei es das Normalste von der Welt, einen Tabakbeutel aus der Hosentasche zog.
Stephan war platt. – Seit wann rauchte Bernd?
»Möchtest du auch?«, fragte dieser und hielt ihm den geöffneten Beutel entgegen.
Bei Stephan klingelten plötzlich alle Alarmglocken.
»Lass das bloß sein!«, rief eine innere Stimme aus irgendeiner Ecke seines Unterbewusstseins, wo offenbar noch seine ersten Raucherfahrungen gespeichert waren.
»Nein, danke, lieber nicht!«, sagte er und schob den Tabaksbeutel mit einer abwehrenden Geste zurück.
»Du traust dich wohl nicht?«
Michael sah ihn mit einem breiten Grinsen an, während er mit einer wichtigen Geste die Zigarette nahm, die Bernd ihm hinhielt.
»Natürlich traue ich mich«, sagte Stephan. »Schließlich habe ich schon mal geraucht!«
Mit festem Blick sah er dabei Michael in die Augen und war insgeheim froh, dass Zelte keine Balken hatten.
Bernd drehte bereits die nächste Zigarette und Stephan staunte, wie behände er aus einem Stück Papier und etwas Tabak eine Zigarette rollen konnte. Das Blättchen zwischen dem linken Daumen, Zeige- und Mittelfinger haltend, portionierte er mit der anderen Hand den Tabak im Beutel, bevor er ihn auf das Blättchen legte. Dort verteilte er ihn gleichmäßig mit den Zeigefingern und rollte anschließend das Blättchen ein paar Mal hin und her. Zum Schluss fuhr Bernds Zunge über den gummierten Streifen, dann rollte er die Zigarette zu Ende und schob sie sich lässig in den Mundwinkel.
Was war nur in den drei Wochen, in denen er auf Baltrum war, alles passiert? Vor seiner Abfahrt war Rauchen jedenfalls kein Thema für sie gewesen und jetzt beherrschte sein Freund das Zigarettendrehen, als ob er noch nie etwas anderes gemacht hätte.
»Na, was ist nun?«, fragte Michael, während er seine Zigarette anzündete. »Ich denke, du hast schon mal geraucht?«
»Natürlich«, sagte Stephan und fügte mit dem Brustton der Überzeugung an: »Ich dreh' mir meine aber selber.«
»Na dann, hier«, sagte Bernd und hielt Stephan seinen Tabaksbeutel hin. Zögernd nahm er den Beutel und blickte nun doch leicht verunsichert in die Runde, schließlich hatte er ja noch nie eine Zigarette gedreht. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Stephan zupfte ein Blättchen aus der Packung, portionierte den Tabak, wie er es eben bei Bernd gesehen hatte, und verteilte den Tabak auf dem Blättchen.
Klappt doch prima, dachte er und rollte die Zigarette zwischen den Fingern. Dabei schielte er gelegentlich zu Michael und stellte mit Genugtuung fest, dass dieser ihn staunend beobachtete. Voller Zuversicht begab sich Stephan nun daran, das Blättchen einzurollen, doch so sehr er sich auch bemühte, es wollte einfach nicht klappen. Schließlich passierte das Unvermeidliche: Das Blättchen zerriss in der Mitte.
Bernd lachte, und Michael lachte auch.
Warum lacht eigentlich Michael?, dachte Stephan ärgerlich. Der hat doch seine Zigarette auch nicht selbst gedreht. Bestimmt konnte er das auch gar nicht.
»Ist mir auch am Anfang passiert«, sagte Bernd und klopfte ihm ermutigend auf die Schulter. »Probier es noch mal!«
Stephan nickte unsicher. Doch ein Blick zu Michael, der ihn von oben herab angrinste, weckte all seinen Ehrgeiz. Und mit leichten Hilfestellungen von Bernd schaffte er es tatsächlich, seine erste Zigarette zu drehen. Stolz betrachtete er sie von allen Seiten und war mit dem Ergebnis durchaus zufrieden.
»Jetzt musst du sie aber auch rauchen!«, rief Michael sofort.
Stephan zögerte. Wieder war da die mahnende Stimme in seinem Kopf.
»Los!«, rief Michael und hielt ihm Bernds Feuerzeug hin. »Oder hast du Angst, in die Hose zu machen?«
Stephan schluckte. Natürlich hatte er Angst. Plötzlich erinnerte er sich wieder, wie er damals auf der Toilette dem Rauchen abgeschworen hatte.
»Blödsinn« war allerdings dann das, was über seine Lippen kam. Irgendwie musste er das jetzt überstehen und Michael beweisen, dass er nicht gelogen hatte. Und so beugte sich Stephan der Verführung. Langsam hob er das Feuerzeug und zündete sich die Zigarette an. Tunlichst darauf bedacht, ja keinen Rauch in seine Lungen kommen zu lassen, paffte er die ersten Züge schnell hintereinander weg. - Lebenserfahrung zahlt sich eben aus.
»Was ist das denn?«, fragte Michael und sah ihn ungläubig an. »Du rauchst ja wie ein Mädchen! Du musst auf Lunge! So, hier!« Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und blies den Rauch anschließend demonstrativ langsam wieder aus.
Wie ein Mädchen?, dachte Stephan. Lauf doch mal eben zu meiner Mutter, die zeigt dir dann, wie ein Mädchen raucht. Er blickte Hilfe suchend zu Bernd, doch von dort erhielt er keine Unterstützung. Ganz im Gegenteil, wie eben sein Cousin, nahm auch Bernd jetzt einen tiefen Lungenzug, hielt die Luft an, ganz ohne Froschbacken zu machen, und blies sie anschließend mit einem genüsslichen Seufzer aus.
Bernd war ein Jahr älter als Stephan und kam nach den Ferien schon in die Untertertia. Das verlieh ihm genau die Art natürlicher Autorität, der Stephan in diesem Moment hilflos ausgeliefert war, wollte er nicht als Weichei vor Michael dastehen. Er gab sich einen Ruck und nahm den zweiten Lungenzug seines Lebens. Zu seiner Überraschung blieb der erwartete Hustenanfall aus. Verwundert betrachte Stephan die Zigarette und zog erneut daran. Dabei bemerkte er, wie schwer es war, überhaupt Rauch in die Lungen zu bekommen. Irgendwie hatte er das von seinem ersten Rauchversuch anders in Erinnerung. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass durch seine ungeschickten Drehversuche der Tabak derart fest zusammengedrückt worden war, dass nur wenig Luft durch die Zigarette gesogen werden konnte.
Stephan fühlte sich cool und auf einmal so richtig schön erwachsen. Stolz blickt er abwechselnd von Michael zu Bernd, bis sich auf einmal ein Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete, dass er noch zu gut in Erinnerung hatte. Zum Glück war Bernds Elternhaus ganz in der Nähe und sie hatten einen Haustürschlüssel bekommen für den Fall, dass noch jemand auf die Toilette musste.
Und Stephan musste!
An diesem Abend gab es noch viel zu erzählen. Stephans kurzer Ausflug ins Haus war zu seiner Erleichterung kommentarlos geblieben. Nachdem er zurückgekommen war, hatte er auch gleich den Schlüssel an Michael übergeben, der sie daraufhin mit einer merkwürdigen Eile in Richtung Haus verließ. Offenbar war Michael doch nicht so raucherfahren, wie er eben noch getan hatte.
Von jenem Abend an wurde die Zigarette zum ständigen Begleiter der drei Jungs. Auch nachdem die Ferien zu Ende waren, änderte sich daran nichts. Bernd und Stephan stießen in der Schule zu den kleinen Rauchergruppen, die sich regelmäßig in den Pausen heimlich in den Toilettenräumen oder hinter der Sporthalle trafen.
Bis kurz vor Ferienende hatte Stephan seine Zigaretten immer bei Bernd geschnorrt. Doch dann war ihm die Frage »Darf ich mir auch eine drehen?« so unangenehm geworden, dass er kurzerhand sein Taschengeld zusammengekratzt und sich seinen ersten eigenen Tabak gekauft hatte.
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