1 ...6 7 8 10 11 12 ...32 zen Leib und wagte kaum seine Augen aufzuschlagen.
»Wascha1«, sagte der Große Geist in freundlichem
Ton, »mein Sohn, warum fürchtest du dich so sehr?«
»Ach«, erwiderte er, »es wird mir schwer, meinen
Schöpfer anzusehen; auch bin ich elend und hungrig,
denn seitdem mich die Wasserflut forttrieb, habe ich
noch keinen Bissen zu mir genommen.«
Da hob der Große Geist seine Hand, zeigte ihm
Pfeil und Bogen und winkte ihm, auf ihn zu sehen. In
kurzer Entfernung saß ein großer Vogel auf einem
Baum, den schoß er herunter, und dann erschien ein
fetter Hirsch, den er mit einem zweiten Pfeil erlegte.
»Das sei in Zukunft deine Nahrung«, sagte er darauf
und gab ihm jene Waffen. Auch lehrte er ihn, wie man
den Tieren das Fell abzieht und sich Kleider daraus
macht, und er gab ihm Feuer, damit er sich das
Fleisch braten konnte. Zum Abschied hing er ihm eine
glänzende Wampumschnur um den Hals, wodurch er
ihn zum König über alle Tiere machte. Darauf verschwand
der Große Geist.
Nachdem sich Wascha wieder gründlich restauriert
hatte, setzte er seine Reise fort und kam an das Ufer
eines großen Flusses. Als er sich dort eine Weile hinsetzte,
um ein wenig auszuruhen, kam ein großer
Biber aus dem Wasser und sagte: »Wer bist du, der
sich erfrecht, hierherzukommen, um mein Königreich
zu zerstören?«
»Ich bin ein Mensch und war ehemals eine unglückliche
Schnecke«, antwortete Wascha. »Aber wer
bist du denn eigentlich?«
»Ich bin der König aller Biber und führe mein
Volk stromaufwärts und stromabwärts, und dieser
Fluß hier bildet mein Königreich.«
»Dieses Reich muß ich mit dir teilen«, erwiderte
Wascha, »denn der Große Geist hat mich zum Beherrscher
aller Tiere, Vögel und Fische gemacht und mir
auch Mittel und Kraft verliehen, meinen Rechten Geltung
zu verschaffen.« Dabei deutete er auf Pfeil,
Bogen und Wampum.
»O komm her!« sagte darauf der Biber in äußerst
mildem Ton. »Ich glaub' es ja gerne, daß wir Brüder
sind; wir müssen uns daher näher kennenlernen.
Komm mit mir in meine Wohnung, und erhole dich
von deiner langen Reise.«
Wascha folgte der freundlichen Einladung des Biberchiefs
und ging mit ihm in seine Hütte. Diese bestand
in einem geräumigen, fein ausstaffierten Zimmer,
dessen Boden mit fein geflochtenen Matten belegt
war. Als sie sich niedergesetzt hatten, befahl der
Chief seiner Frau und seiner Tochter, dem Gast ein
recht nahrhaftes Mahl zu bereiten.
Während nun wacker gekocht und gebraten wurde,
sann der alte Biber hin und her, wie er mit Wascha
einen dauernden Freundschaftsbund schließen könne,
und er erzählte ihm allerlei vom großen Fleiß seines
Volkes, wie seine Untertanen mit ihren Zähnen die
dicksten Bäume fällten, große Dämme bauten usw.
Darauf erschienen Mutter und Tochter mit saftigem
Weidenholz und köstlichem Sassafras, und alle setzten
sich nieder und aßen.
Wascha aß jedoch sehr wenig, denn die Biberkost
mundete ihm nicht recht. Desto mehr Gefallen fand er
aber an der schönen, reinlichen und folgsamen Tochter,
die ihm gerade gegenüber saß. Beide gewannen
sich lieb, und zur größten Freude des alten Biberkönigs
wünschten sie sich, zu heiraten. Darauf wurde
das großartigste Fest, das je das Biberreich gesehen
hatte, veranstaltet, und alle Biber der ganzen Welt
wurden dazu eingeladen.
Als Wascha und die Bibertochter eine Zeitlang
Mann und Weib gewesen waren, wurden sie, wie alte
Medizinmänner erzählen, die Stammeltern der Osagen.
Fußnoten
1 ein anderer Ausdruck für Osage
6
Von dem Knaben, der die Sonne in einer
Schlinge fing
Zur Zeit, als noch die Tiere auf der Welt die Oberhand
hatten, waren sie sehr grausam gegen die Menschen
und töteten sie alle mit Ausnahme eines Mädchens
und eines Knaben. Dieser Knabe war ein Zwerg
und nahm wohl täglich zu an Alter, aber nie an Kraft
und Größe. Deshalb mußte die Schwester alle Arbeiten
allein verrichten; sie mußte Holz holen, die nötigen
Kleider anfertigen und den Wigwam rein halten.
Wenn sie ausging, nahm sie ihren schwächlichen Bruder
jedesmal mit, damit ihn nicht etwa während ihrer
Abwesenheit ein großer Vogel wegschleppe oder ihm
ein sonstiges Unglück passiere.
Eines Tages machte sie ihm Pfeil und Bogen und
sagte ihm, er solle damit die Guanadsch-Binessiwag
oder die schönen großen Vögel schießen, die bald
herbeikommen würden, um die Würmer aufzupicken,
die sie aus dem dürren Holz gezogen habe. Er versuchte
es, konnte aber am ersten Tag mit seinen Waffen
nichts ausrichten. Die Schwester ermahnte ihn
darauf, nicht gleich zu verzagen und den Mut zu verlieren,
sondern am folgenden Tag sein Glück aber-
mals zu probieren.
Da schoß er denn auch einen mächtigen Vogel und
sagte zu seiner Schwester: »Höre, ich wünsche, daß
du mir die Haut davon aufhebst, um mir, wenn ich
deren mehrere habe, ein stolzes Kleid daraus zu machen.
«
»Aber was sollen wir mit dem Fleisch tun?« fragte
sie darauf; denn die Menschen jener Zeit aßen noch
kein Fleisch, sondern:
Schmausten lauter Pflanzenkost
Und tranken würz'gen Blütenmost.
»Vermische es mit unserer Suppe; ich denke, das wird
sie nahrhafter und schmackhafter machen«, meinte der
Zwerg, und sie folgte ihm auch.
Als er zwölf Vögel geschossen hatte, machte sie
ihm auch ein stattliches Röcklein ganz nach seinem
Geschmack.
»Schwester«, fragte eines Tages darauf der Kleine,
»sind wir denn so ganz allein in der Welt, und lebt
außer uns kein menschliches Wesen mehr?«
Die Schwester erzählte ihm von einigen bösen Verwandten,
die sich in einer entfernten Gegend aufhielten,
wohin er um keinen Preis gehen sollte. Aber er
kümmerte sich wenig um die Entfernung, nahm Pfeil
und Bogen und ging.
Als er eine Weile gegangen war, wurde er müde,
legte sich nieder und schlief ein. Die Sonne schien
aber so heiß auf ihn, daß sie ihm alle Federn seines
Rocks versengte und außerdem noch ein großes Loch
hineinbrannte. Als er nun darauf erwachte und seinen
Schaden besah, wurde er sehr zornig und schwor bei
allen Raubvögeln und Raubfischen, sich an der unverschämten
Sonne zu rächen, und wenn sie noch einmal
so hoch am Himmel hinge. Grimmig eilte er darauf
nach Hause, aß nicht und trank nicht und beantwortete
die tröstenden Zusprüche seiner Schwester mit den
racheschnaubendsten Blicken.
Zehn Tage lang legte er sich regungslos mit der linken
Seite auf die Erde, und dann drehte er sich um
und legte sich noch weitere zehn Tage auf die rechte
Seite. Danach stand er auf und sagte seiner Schwester,
sie möge ihm eine Schlinge machen, damit er die
Sonne damit fangen könne. Sie verfertigte ihm auch,
so gut sie konnte, eine aus starken Schlingpflanzen,
aber der Kleine war damit nicht zufrieden. Da schnitt
sie ihre langen Zöpfe ab und gab sie ihm.
Dies gefiel ihm schon besser; er nahm sie, zog sie,
um sie etwas anzufeuchten, durch seine Lippen, wodurch
sie ganz rot wurden und sich allmählich ein langes
metallenes Seil daraus bildete, das er um seinen
Körper wickelte. Um Mitternacht begab er sich auf
die Reise, damit er die Sonne noch vor ihrem Aufgang
erwische. Und richtig – er hatte Glück! Er fing sie
und hielt sie so fest, daß sie sich weder regen noch bewegen
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