Baum saß.
»Wer fliegt mit mir in den Himmel hinein?« rief
darauf der Adler so laut, daß es alle Vögel ringsum
verstanden.
»Oh, das wird der Falke tun!« schnatterten sie ihm
zu. »Der kann's schon mit dir aufnehmen!«
»Der Falke?« bemerkte der Adler höhnisch. »Mit
dem zu fliegen finde ich unter meiner Würde.« Darauf
flog er allein auf und war in kurzer Zeit den Blicken
der Zuschauer entschwunden.
»Und ich kann doch am höchsten fliegen!« schrie
darauf triumphierend der Falke, als er sah, daß ihn
nur noch einige kurzflügelige und schwerfällige
Vögel umstanden.
23
Der Rabe und der Specht
Eine junge, erst sechs Monate verheiratete Frau war
ausgegangen, um sich einige dürre Zweige zum Feueranmachen
abzubrechen.
Als dies ein vorbeifliegender Rabe sah, schrie er:
»Indoschkesikomon! Indoschkesikomon!« Das heißt:
»O meine Augen! O meine Augen!« Damit wollte er
nämlich den Wunsch ausdrücken, daß das künftige
Kind der Indianerin ein Knäblein sein sollte, das später
ein tüchtiger Jäger würde, so daß er sich vor dessen
Tür recht zahlreiche Augen des geschossenen
Wildes – bekanntlich die Leckerbissen der Raben –
auflesen könne.
Auch ein hungriger Specht hatte die Frau von
einem Baum aus beobachtet und dabei vor sich hin
ständig »Nemossämudschi« gewispert. Damit meinte
er: »Meine Würmer«, denn das erwartete Kind sollte
ein Mädchen sein, später eine tüchtige Hausfrau werden,
fleißig ausgehen und dürre Äste abreißen, damit
er sich die Würmer daraus picken könne.
24
Der Häuptling Eschkwägonäbei
erzählte einst:
Zu der Zeit, als der Große Geist den Bau der Erde beendet
hatte, diese aber noch wenig bewachsen und bewohnt
war, setzte er ein junges Menschenpaar darauf,
das sich in kurzer Zeit so sehr vermehrte, daß der
Geist des Todes erwachte und die allgemeine Sterblichkeit
einführte. Da weinten denn die armen Menschen
bitterlich, liefen trostlos umher und klagten,
warum sie der Meister des Lebens denn eigentlich geschaffen
habe, da er sie doch so bald wieder der
Macht des Todes überlieferte.
Als dem Schöpfer im Himmel diese Jammertöne in
die Ohren klangen, rief er alle seine Engel und sonstigen
verständigen Wesen zusammen, um sich mit
ihnen zu beraten, was in dieser Angelegenheit zu tun
sei. Die Beratung dauerte sieben Tage, während welcher
Zeit weder der leiseste Wind wehte noch das
kleinste Wölkchen den Himmel bedeckte.
Am letzten Tag wurde nun ein Bote auf die Erde
geschickt, der trug auf der rechten Seite seines Busens
ein Büschel weißen Hasenhaars und auf der linken
einen weißen Adlerkopf. Diese Sache, die mit einigen
blauen Streifen geschmückt waren, gab er dem zuerst
geschaffenen Menschen und sagte: »Deine Klagen
sind gehört worden, und der Große Geist schickt dir
hiermit einen köstlichen Trost. Nimm das weiße Hasenhaar
und den weißen Adlerkopf und gebrauche
beides bei deinen Medäwäs oder religiösen Festen;
dann werden alle deine Wünsche erfüllt werden; deine
Kranken werden wieder genesen und sich eines langen
Lebens erfreuen!«
Darauf verschwand der Gesandte. Die roten Kinder
nahmen sich sein Gebot zu Herzen und hatten großen
Segen davon.
25
Eine Geschichte, die mit einer Moral endet
Menabuscho hatte einst einen Hirsch geschossen und
wußte nicht, von welcher Seite er ihn eigentlich essen
sollte. »Fange ich beim Kopf an«, sprach er zu sich
selbst, »so sagen die Leute, ich habe ihn kopfwärts
gegessen; fange ich an der Seite an, so sagen sie, ich
habe ihn seitwärts gegessen, und fange ich beim
Schwanz an, so lachen sie mich alle aus und rufen:
›Menabuscho hat seinen Hirsch schwanzwärts gegessenen.‹
«
Während er sich so mit diesen unnützen Gedanken
beschäftigte, erhob sich ein stürmischer Wind, und
die Zweige eines nahen Baumes rieben sich so geräuschvoll
aneinander, daß Menabuscho ärgerlich
wurde und beschloß, die beiden lärmenden Äste abzuhauen.
Er kletterte also auf den hohen Baum; doch
kaum war er oben, so lief eine Herde hungriger Wölfe
herbei, und diese fraßen ihm den fetten Hirsch vor seinen
Augen auf, ohne daß er es hätte verhindern können.
Daher sagen die alten Medizinmänner: »Wenn du
ein leckeres Stück Fleisch besitzt, so kümmere dich
nicht um Nebensachen!«
26
Nebäkwäms Traum
Nebäkwäm erschien einst ein weißer Mann im Traum,
der zeigte ihm einen breiten, südwestlich führenden
Weg, an dessen Ende er gerufen werde. Um dieser
Weisung Folge zu leisten, bekleidete sich Nebäkwäm
schnell mit seinem besten Gewand und betrat den angegebenen
Pfad. Zu dessen beiden Seiten lag eine
Menge umgehauener Bäume, und die nahe stehenden
Häuschen zeigten, daß sie mit anderen Werkzeugen
und Händen gebaut waren, als die Wigwams seines
Volkes. Bald kam er in eine große Stadt, die ihm so
sehr gefiel, daß er gerne dort geblieben wäre, wenn
ihm die Leute nicht befohlen hätten, weiterzugehen.
Nachdem er noch einige Meilen zurückgelegt hatte,
sah er sich auf einer unermeßlich großen Ebene, auf
der eine hohe Leiter stand, die er besteigen mußte.
Diese führte ihn hinauf bis in den Himmel, wo ihn ein
weißer Mann erwartete, der ihm vier prächtige Häuser
zeigte.
Als er in deren Nähe kam, öffnete sich die Tür des
ersten, und vier alte Männer, wovon zwei schneeweiße
Köpfe hatten, luden ihn ein, hereinzukommen.
»Hier ist der Platz«, sagten sie zu ihm, »an den du ge-
rufen bist; kein Indianer vor dir ist würdig gewesen,
diese Stelle zu betreten; die Knochen derjenigen, die
aus eigenem Willen emporklettern wollten, siehst du
unten am Fuß der Leiter bleichen.«
Darauf gaben ihm die zwei ältesten Männer einen
roten Tierschwanz und eine Adlerfeder und sagten
ihm, er solle letztere ständig auf dem Kopf tragen,
denn sie würde ihn vor Hunger und Krankheit schützen
und ihn auch der Gunst des Großen Geistes versichern.
»Alle Menschen«, sagten sie weiter, »weiße
wie rote, können hierherkommen, wenn sie nur auf die
Lehren hören, die ihnen ihre heiligen Männer predigen.
«
Darauf zeigten sie ihm noch eine Menge großer
Vögel und fetter Tiere, die vorzugsweise nur für den
roten Mann geschaffen seien.
27
Ein teuflischer Tanzmeister
Es war gerade nicht der Teufel selbst, aber mindestens
ein ebenso gesinnter und verschmitzter Geist,
der sich zur Lebensaufgabe gesetzt hatte, andere
Leute stets zu schikanieren und allenthalben Unglück
anzurichten.
Er ging einst am freundlichen Ufer des Huronsees
spazieren und sah eine Menge lustiger Enten vor sich
auf dem Wasser herumsegeln und sich köstlich nach
Entenart amüsieren. »Ach«, rief er ihnen zu, »das
freut mich doch übermenschlich, daß ihr lieben Enten
so schön vergnügt und heiter seid; kommt doch auch
einmal mit mir in meine Hütte, damit ich euch einen
neuen schönen Tanz lehren kann, den jetzt die Seelen
im Himmel tanzen.«
Einige bejahrtere Schnatterer schüttelten bedenklich
die Köpfe dazu und wisperten: »Laßt uns nicht
hingehen; denn das ist Menabuscho, der Übeltäter.«
Doch die jüngeren waren anderer Meinung; der
schöne Mann sprach ja so freundlich und liebevoll,
daß es eine wahre Ungezogenheit gewesen wäre,
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