»Nun sage mir, mein Bruder«, sprach der Gute,
»was fürchtest du am meisten?«
»Stierhörner«, erwiderte der; »und wovor ist dir
bange?«
»Vor Schlingen, die aus Gras geflochten sind.«
Das freute denn den Bösen recht, und augenblicklich
lief er hin zu seiner Großmutter, die ihre Zeit mit
derartigen Flechtereien vertrödelte, holte eine große
Menge davon und bestreute den Weg damit, den sein
Bruder zu laufen hatte.
Am folgenden Morgen begann der Gute den Wettlauf.
Gegen Mittag fühlte er sich etwas schwach und
matt, und da er keine andere Speise in der Nähe und
auch nicht viel Zeit zu versäumen hatte, so aß er alle
Grasflechtereien auf, die vor ihm lagen, und erreichte
das Ziel doch noch vor seinem Bruder.
Tags darauf hatte der Böse zu laufen. Seine Bahn
war mit großen Haufen Stierhörnern beworfen, die ihn
so sehr ermüdeten, daß er bald kraftlos niedersank
und verschied. Nun lief der Gute triumphierend zu
seiner Großmutter und erzählte es ihr. Aber diese
machte ein bitterböses Gesicht dazu, denn der Böse
war ihr Liebling gewesen.
In der folgenden Nacht erschien plötzlich der Geist
des Bösen vor der Hütte des Guten und begehrte Einlaß.
Aber der versagte ihm diesen.
»Nun«, rief ihm der Böse darauf zu, »wenn auch
meine Seele bei dir kein Obdach findet, so findet sie
es doch sicher im fernen Nordwesten, wo ich allen
denen eine Heimat bereiten werde, die hier in meine
Fußstapfen treten!« Dann flog er weg und ließ sich
nie mehr in der Nähe guter Menschen blicken.
Als der Gute diesen Störenfried endlich für immer
losgeworden war, ging er wieder einmal hinaus in die
freie Natur, um hier und da nachzusehen, ob nichts
seiner Hilfe bedürftig sei. Plötzlich bemerkte er eine
Gestalt vor sich hergehen, die sah beinahe geradeso
aus wie er, doch war sie nackt. Er beeilte sich, daß er
zu ihr kam, und fing dann ein Gespräch an.
»Wer bist du?« fragte der unbekleidete Mann.
»Ich bin der Herr der ganzen Schöpfung, und alles,
was du vor dir siehst, ist von meiner Hand«, erwiderte
der Gute.
»Was?« schrie der andere laut auf. »Ich bin so
stark wie du, und ich bin es, der alles Lebendige geschaffen
hat!«
»Nackter Mann, du bist im Unrecht! Die ganze
Welt und alles, was darauf atmet, ist die Arbeit meiner
Kraft, und ich entsinne mich nicht, solch ein freches
Geschöpf, wie du bist, geschaffen zu haben!«
»Gut, so sollst du meine Macht sehen. Laß uns versuchen,
wer von uns beiden der Stärkste ist!«
Damit war denn der Gute einverstanden, und der
Nackte sagte: »Sieh, dort vor uns steht ein hoher
Berg; rufe ihn, zu dir zu kommen, und ich werde danach
dasselbe tun.«
Der Gute fiel auf seine Knie und fing an, inbrünstig
zu beten, aber das half nichts, denn der Berg rührte
sich nicht von der Stelle. Nun band ihm sein Gegner
eine Binde vor die Augen, nahm seine magische Rassel
und fing damit schrecklich an zu spektakeln, und
als er ihm darauf die Binde wieder abnahm, sah der
Gute, wie der große Berg auf ihn zukam und sich
hoch in die Wolken erhob. Dann rasselte der Nackte
abermals, und der Berg nahm seinen alten Platz wieder
ein.
Der Gute war also besiegt. Da er in der einen Hand
ein Schwert und in der anderen ein »medizinenes«
Päckchen hielt, in dem seine Kraft bestand, so wollte
er dem Sieger auch seine Kunststücke zeigen und hieb
einen dicken Baum mit einem Schlag entzwei; aber
der Nackte fügte als Antwort darauf beide Teile wieder
so fein zusammen, daß kein Mensch die geringste
Marke daran sehen konnte. Dann nahm er seine dicke
Kriegskeule schlug damit den stärksten Eichenbaum
in Fetzen und flickte alle Stücke wieder ebenso fest
aneinander, wie sie vorher waren.
Da ihm dies der Gute nicht nachmachen konnte, so
drückte er dem Nackten mit erzwungener Freundlichkeit
die Hand und ging tiefbetrübt nach Hause.
Seine Großmutter hatte seit langer Zeit kein so
freundliches Gesicht gemacht wie diesmal bei der
Rückkehr ihres Enkels, der sich darüber so sehr ärgerte,
daß er sie zuerst gehörig durchbleute und dann
hinauf in den Mond warf, wo sie, wie die alten Medizinmänner
sagen, noch heute zu sehen ist.
19
Kosmogonie der Algonkins
Als der Meister des Lebens durch die Kraft seines
Willens die Erde geschaffen und sie mit lieblichen
Gewächsen allerlei Art bepflanzt hatte, setzte er auch
ein Paar von jedem Tier darauf, die sich ungeheuer
schnell vermehrten. Ja sie vermehrten sich in kurzer
Zeit so sehr, daß sich zuletzt beinahe keins mehr satt
essen konnte; Bäume und Pflanzen waren bereits
kahl, und die größten Flüsse so weit ausgetrunken,
daß ein Rabe durchwaten konnte, ohne seine Flügel
zu benässen.
Da sah denn der Große Geist ein, daß es anders
werden müsse, und verwandelte kraft seiner Schwarzkunst
mehrere große Säugetiere in Menschen, die, sobald
sie sich auf ihren zwei Beinen sicher fühlten,
gleich auf alle anderen lebenden Geschöpfe Jagd
machten.
Von diesem Umstand kommt auch der Glaube der
Algonkins, daß jedes getötete Wild, ob Vogel oder
Insekt, kurz nach seinem Tod als Mensch erwacht.
20
Eine »medizinene« Insel
Die Adikininis- oder Caribou-Insel, ein kleines Eiland
im nordwestlichen Teil vom Oberen See, besucht kein
Indianer, trotzdem diese großartige Schätze bergen
und ihre Küste sogar mit Goldsand eingefaßt sein
soll. Denn die alten Medizinmänner wissen ganz
genau, wie viele böse Manitus jene Kostbarkeiten bewachen,
und auch, daß sie das Schifflein eines jeden
Wagehalses zerschmettern, der sich mit diebischen
Absichten den Wellen anvertraute. Auch gibt es ungeheure
Schlangen dort, deren Blicke tödlich sind.
Und doch wurde einst, wie der Reisende Carver erzählt,
ein Versuch gemacht, den Geistern ihre Schätze
zu entreißen; es hatten sich nämlich die geschicktesten
Schiffer zu diesem Plan vereinigt und waren trotz
der himmelhohen Wellen schon ziemlich nahe gekommen,
als auf einmal ein furchtbar kolossaler Geist aus
dem Wasser tauchte und sie zu vernichten drohte. Sie
konnten von großem Glück reden, daß sie wieder mit
heiler Haut davonkamen. Nachher hütete sich aber
jeder vor einem solchen Unternehmen.
21
Wie der Ontonagon-Fluß seinen Namen bekam
Der Ontonagon ist eines der vielen kleinen Flüßchen,
die in den Oberen See münden; früher war er hauptsächlich
dadurch bekannt, daß an seinen Ufern viel
Kupfer gefunden wurde. Nahe seiner Mündung befand
sich ehemals ein kleiner See, den nur eine
schmale Sandbank vom Fluß trennte, die so niedrig
war, daß das Wasser häufig bei heftigem Wind darüber
wegging.
Auf dieser Sandbank hatte einst eine indianische
Squaw ihre hölzerne Schüssel oder Onagon stehen
lassen, und als sie diese wieder holen wollte, sah sie,
daß sie die Wellen bereits aus ihrem Bereich getrieben
hatten. »Ontonagon1!« schrie sie ihr nun ständig
nach, und die benachbarten Leute, die das hörten,
gaben seitdem dem Fluß den Namen Ontonagon, den
er heute noch trägt.
Fußnoten
1 »Da ist meine Schüssel!«
22
Ein Großschnabel
Ein stolzer Falke brüstete sich einst, daß er von allen
Vögeln am höchsten fliegen könne; dabei bemerkte er
aber nicht den Adler, der dicht bei ihm auf einem
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